Die Westpfälzer Musikanten. Das Reizthema Migration einmal gegen den Strich gebürstet. Eine Erinnerung

Horst Heller
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Nadja Donauer, Serie Musikantenland, Bild 4 von 10

Eine Geschichte aus dem westpfälzischen Musikantenland
Im Winter haben Vater und Sohn nach der täglichen Arbeit geprobt und die Reise vorbereitet. Nun ist es Frühling geworden. Der Vater hat seine Tuba auf den Rücken gebunden, der Sohn trägt seine Geige. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Die Mutter, die Tochter und die beiden jüngeren Söhne bleiben zurück. Die beiden Frauen kümmern sich nun allein um das Haus, den Hof und die Jüngsten. Die beiden Knaben werden bald ein Instrument lernen. Auch sie werden Musikanten werden und mit dem Vater reisen, wenn sie älter sind. Alle weinen, aber die Familie hat keine Wahl. Von der Landwirtschaft kann sie nicht mehr leben. Also gehen die erwachsenen Männer und ihre großen Söhne auf Reisen. Sie sind Wandermusikanten. Wenn sie im Herbst nach Hause zurückkehren, bringen sie das Geld mit, das sie auf der Reise verdient haben. Dann können sie vielleicht endlich das kleine Wohnhaus sanieren, das ihr Zuhause ist. Bis dahin muss die Mutter ihre Kinder mit einem Schlaflied trösten, das wir Paul Engel aus Kusel verdanken. Es wird am Ende dieses Beitrags zitiert.

„Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“ So sagte es im Jahr 2015 der damalige Bundespräsident Joachim Gauck. Wer wollte diesen Satz bestreiten? Kein Land hat unerschöpfliche Aufnahmekapazitäten. Aber wie weit ist unser Herz wirklich? In Deutschland wird viel über Flucht, Migration und Asyl debattiert, aber wenig über die Armut in den Herkunftsländern. Das „weite Herz“ ist kaum einmal ein Thema. Dieser Beitrag erinnert daran, dass es vor wenigen Generationen Deutsche waren, die ihr Heil im Ausland suchten. Oft trieb sie die Armut dazu, ihre Heimat zeitweise oder endgültig zu verlassen. Migration war für sie ein Menschenrecht für Arme.

In der Westpfalz verließen alljährlich Tausende ihre Dörfer und reisten als Musikanten durch Deutschland und Europa. Einige kamen bis nach in Amerika und China. Als kleine oder größere Ensembles spielten sie in Kurstädten, in Seebädern, im Zirkus, verdingten sich als Fest- oder Militärkapellen. Sie waren gute Musiker, die auch komponieren, arrangieren und organisieren konnten. In aller Regel lebten sie auf ihren Reisen sparsam. Die Einnahmen sollten ihrer Familie und ihrer Heimat zugutekommen.

So bewahrten Musik und Migration in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Familien vor bitterer Armut und ermöglichte ihnen ein wirtschaftliches Auskommen. Dafür aber mussten sie ihre Heimat wenigstens zeitweise verlassen. An diesen Teil der pfälzischen Regionalgeschichte erinnert das Projekt Westpfälzer Musikantenland. Paul Engel, Michael Cappel, Elaine Neumann und viele andere haben die Geschichte des Musikantenlands recherchiert, die Zeichnerin Nadja Donauer hat zehn Bilder gestaltet, die Geschichten aus dieser Zeit erzählen. Sie sind auf der Seite des Westpfälzer Musikantenlands mit didaktischem Material als digitale Ressource verfügbar.

Viele Menschen mit Wurzeln in Jettenbach, Mackenbach, Wolfstein oder anderen Orten aus dem Norden und Westen der Pfalz haben Musikanten unter ihren Vorfahren. Wer sich an sie erinnert, dem gehen Worte der Debatte unserer Tage nicht mehr so leicht über die Lippen: „Irreguläre Migration bekämpfen!“ und „Endlich im großen Stil abschieben!“

Heijo – popejo – mei Kind, leh dich um!
Die Vatterche geiht in Brasilje herum.
Dei Unkel duht drowwe in Finnland trumpete,
De Petter im Bureland drilliere unn flöte.
Unn werd unser Kind Musikant wie die annere
dann duht’s bis ans End vun de Welt enauswannere
unn bringt uns e Sack voll Goldsticker met!

(zititert nach „Die Rheinpfalz“, 18.11.2023

Mehr Info gibt es hier:
Eine umfassende Seite mit historischen Bildern, didaktischem Material, dem Link zum Museum des Musikantenlandmuseums in der Zehntscheune auf Burg Lichtenberg und dem Westpfälzer Musikantenmuseums in Mackenbach
www.westpfaelzer-musikantenland.de

… und hier:
Eine Dokumentation in der ARD-Mediathek
https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzE5NTM0OTQ (ab Minute 23)

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