Was ist eigentlich Paradising? Gestalten ist ein Kernthema religiöser Bildung

Horst Heller
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„Kann man das nicht auf Deutsch sagen?“ Ich habe Freunde, die gegen den Neologismus „Paradising“ mit harschen Worten protestieren würden. Und ich gestehe, dass ich im Gespräch mit ihnen manchmal nach einem passenden englischen Wort suche, obwohl mir ein deutsches auf der Zunge liegt.

Dabei war ich selbst zunächst irritiert, als ich zum ersten Mal von Paradising hörte. War das ein neudeutscher Begriff für etwas, was schon seit Jahrzehnten elementarer Bestandteil evangelischer Bildungsarbeit war und ist? Ich spreche vom Konziliaren Prozess. Ich ging der Sache nach. Je mehr ich mich mit Paradising beschäftigte, desto klarer wurde mir, dass wir heute theologisch und religionspädagogisch anders über unseren Planeten mit seinen Grenzen sprechen müssen als in den 1990er Jahren.

Ein theologischer Grund vorweg: Die Schöpfung ist nach christlichem Verständnis kein abgeschlossenes Werk, das wie ein wertvolles Gemälde in seinem Originalzustand erhalten und geschützt werden müsste. Im Anthropozän ist es dafür sowieso zu spät. Der Mensch hat längst die Aufgabe übernommen, die Welt, in der er lebt, zu gestalten und zu verändern. Er hat Städte gebaut, Brücken über Flüsse errichtet, er hat Ackerbau betrieben und Tiere domestiziert. Nicht dass er die Welt umgestaltet hat, war sein Fehler, sondern wie er es tut, hat die Probleme der Gegenwart verursacht.

Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung. Die evangelischen Kirchen haben die Notwendigkeit des Umsteuerns schon früh auf die globale Tagesordnung gesetzt. Und doch ist der Konziliare Prozess in der Religionspädagogik heute ein Programm der Vergangenheit. Er hat Anstöße gegeben, doch vier neue Ansätze haben sein Anliegen aufgegriffen und führen es weiter.

Die Bildung für nachhaltige Entwicklung legt Wert darauf, dass der Schutz der planetarischen Grenzen ein Verhalten erfordert, das gelernt werden kann.
Die Kompetenzen der Bildung für nachhaltige Entwicklung sind in allen Bundesländern zu Querschnittsthemen für den Unterricht aller Schularten, aller Schulstufen und aller Schulfächer geworden. Der Schutz des Planeten ist nun nicht mehr vorrangig eine religiöse oder gar eine theologische Frage, sondern eine Forderung der Vernunft und eine Aufgabe für die Bildung.

Es ist kein Alleinstellungsmerkmal des Christentums, das Klima zu schützen. Im Gegenteil: Die christliche Schöpfungstheologie hat einen Anteil daran, dass unser Planet in der Krise ist. Dennoch und gerade deshalb sind die Religionen, nicht nur das Christentum, heute gefordert. Es ist der Initiative des verstorbenen Theologen Hans Küng und seinem Projekt Weltethos zu verdanken, dass das Parlament der Weltreligionen im Jahr 2018 eine fünfte Weisung zur ökologischen Verantwortung aller Religionen verabschiedet hat. Über 160 Vertreterinnen und Vertreter der Weltreligionen haben dieser Grundnorm des Verhaltens gegenüber unserem Planeten zugestimmt. Sie kommt ganz ohne Anglizismen aus und lautet: „Du sollst nicht gierig sein!“

Der Konziliare Prozess hat die Industrieländer aufgerüttelt, doch erst das Globale Lernen zeigt die Notwendigkeit eines Perspektivwechsels.
Die Klimaerwärmung lässt bei uns Reben wachsen, die es früher nur im Spanien gab. Wenn im Unterricht aber eine Videokonferenz mit einer afrikanischen Schule herstellt wird, können wir erfahren, wie es sich in einem Land lebt, in dem Wasser Mangelware oder zu teuer ist. Wie fühlen sich Kinder, die ununterbrochen Durst haben? Was haben wir davon, wenn wir sie uns das schildern? Die Antwort auf diese Frage gab mir kürzlich die Bildungsreferentin von Brot für die Welt in Berlin, Cornelia Freier: Die Lösungen in der Klimakrise, sagte sie, werden nicht in den Ländern entwickelt, in denen sie verursacht wurde, sondern da, wo ihre Folgen am frühesten oder am stärksten zu spüren sind.

Zum Schluss: Und was ist jetzt Paradising?
Paradising kommt ursprünglich nicht aus der schulischen Religionspädagogik, sondern aus der kirchengemeindlichen Pädagogik. Paradising nimmt das biblische Motiv des Paradieses auf und will die Schöpfung nicht bewahren, sondern kleine Paradiese schaffen. Paradising will also ins Handeln kommen. Es regt an, dass Kirchengemeinden, Schulen und Religionslerngruppen proaktiv an vielen Stellen selbst zu Schöpferinnen und Schöpfern werden. Sie gestalten Kunst, die aus Abfällen Schönes macht, und präsentieren Kreatives in einer Ausstellung. Sie organisieren einen Second Hand Basar für gebrauchte Kleidung, Schuhe und Bücher. Sie planen eine Entsiegelung des Schulhofs und sammeln Geld dafür. Sie stellen die Schulkantine auf nachhaltige Ernährung um und laden Lehrerinnen und Lehrer ein, sich zu beteiligen. Sie wissen, was diese Erde braucht, aber sie bleiben nicht beim Nachdenken stehen, sondern kommen ins Gestalten. Damit weisen sie nach, dass auch junge Menschen etwas bewegen können. Und nicht zuletzt: Sie spüren selbst, wie wohl Menschen sich inmitten einer Welt fühlen, die nicht ausgeplündert wird.

Wir haben noch vieles in der Hand. Das ist wichtig, denn wir begegnen in der Schule immer öfter der Resignation, der Klimawandel sei nicht mehr zu stoppen, und der falschen Hoffnung, in Europa werde es so schlimm schon nicht kommen.

Paradising weist also über die Kernthemen des Religionsunterrichts hinaus und verlässt sie doch nicht. Die christlichen Kirchen sind nicht aufgefordert, sich dauerhaft öffentlich mit sich selbst zu beschäftigen. Deshalb tut es auch dem Religionsunterricht gut, wenn er zeigen kann, dass wir etwas tun können für den geliehenen Stern, auf dem wir leben. Das ist doch viel wichtiger als angestrengt nach einen deutschen Äquivalent für „Paradising“ zu suchen.

Diese Gedanken verstehen sich (auch) als Hinführung zu einem Studientag in Präsenz am 22.05.2023 in Saarbrücken: Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben

Links:
Agenda 2030: https://www.bmz.de/de/agenda-2030
„Geliehen ist der Stern“: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_texte_130_2018.pdf
Tu Du’s für dich und die Welt: https://www.17ziele.de
Globales Lernen: https://www.bildung-trifft-entwicklung.de/de/was-ist-globales-lernen.html
Weltethos: https://www.weltethos.org/wp-content/uploads/2022/10/weltethos-erklaerung-2018.pdf
Paradising: https://www.umkehr-zum-leben.de/asa/paradising
https://www.ekd.de/zukunft-angesichts-der-oekologischen-krise-theologie-neu-denken-65152.htm

Blogbeiträge auf www.horstheller.de
15.08.2021: „Nicht nur ethische Themen, bitte!“ Vier Megatrends und zwölf Zukunftsaufgaben des nachpandemischen Religionsunterrichts
20.02.2022: „Der christliche Glaube bewährt sich in gelebtem, erzähltem und erzählbarem Leben – oder er bewährt sich nicht.“ Wo bitte geht es zu einem mutigen, uneigennützigen und lebensnahen Religionsunterricht?
06.11.2022: Es regnet in der Karawanserei. Warum ich meiner Kirche und meiner Religion trotzdem treu bleibe
12.02.2023: Die Titanic hätte umsteuern müssen, bevor sie den Eisberg rammte. Sechs Fragen und fünf Antworten zum Religionsunterricht
26.02.2023: „Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben.“ Aspekte einer zeitgemäßen Schöpfungsdidaktik
14.05.2023: Was ist eigentlich Paradising? Gestalten ist ein Kernthema religiöser Bildung
21.05.2023: Eine Willkommenskultur für kluge Köpfe und hohe Zäune für alle anderen. Bei dieser Party will ich nicht mitfeiern.
04.06.2023: „Die wahren Abenteuer sind im Kopf.“ Platons Höhlengleichnis und Gedanken zu Bildung


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