Horst Heller (Text und Bilder: CC BY-SA 4.0: Weiterverwendung – mit Namensnennund des Autors und unter gleichen Bedingungen – willkommen
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Als Schüler hatte ich es schon gelernt, als Lehrer gelehrt: Das berühmte Mailänder Toleranzedikt des römischen Kaisers Konstantin wurde im März 313 erlassen. Als ich vor einiger Zeit Mailand besuchte, suchte ich den Ort, wo es verkündet wurde. Ich fand ihn nicht. Kein Wunder, denn es gab kein Toleranzedikt, jedenfalls nicht in Mailand, wie ich inzwischen weiß. Allerdings gab es zum Beginn des Jahres 313 ein Zusammentreffen zweier Kaiser, die sich auf eine gemeinsame Religionspolitik im Imperium verständigten. Eine Willensbekundung, die in Mailand abgefasst worden sein könnte, wird vom Kirchengeschichtsschreiber Eusebius (gest. etwa 340) überliefert. Das Wort Toleranz kommt in diesem Dokument nicht vor. Und doch reicht seine Bedeutung weit über seine Zeit hinaus. Das christliche Abendland nahm die Freiheiten von 313 nämlich bald schon zurück und verweigerte bis in die Neuzeit den „Andersgläubigen“ eine Religionsfreiheit à la Konstantin.


Zunächst war ich enttäuscht, dass ich in Mailand dem Edikt nicht auf die Spur kam. Am Ende meines Besuches begegnete ich Konstantin dann doch noch. Aber der Reihe nach.
Zur Vorgeschichte:
Zu Beginn des 4. Jahrhunderts war die Macht im Imperium Romanum auf vier Herrscher verteilt. Im Nordteil des Westreiches, in dem Konstantin herrschte, waren Christen schon seit einigen Jahren geduldet. Auch in Italien und dem westlichen Nordafrika hatte Maxentius, selbst kein Christ, ebenfalls alle Christenverfolgungen beendet. Im Osten des Reiches, wo die große Mehrheit der Christen lebte, gab es allerdings keine einheitliche Linie. Während ein eingeschränktes Duldungsedikt des Kaisers Galerius in großen Teilen des oströmischen Reiches die Lage der Christen verbessert hatte, sah Maximinus Daia in seinem Herrschaftsgebiet Syrien und Ägypten den Glauben an Jesus Christus noch immer als Kapitaldelikt an.
In dieser Situation trafen sich Licinius, Nachfolger des Galerius und ebenfalls ein Anhänger nicht-christlicher Kulte, und Konstantin, ein dem Christentum zugeneigter Kaiser, im Januar oder Februar 313 in Mailand und vereinbarten, dass die Religionsfreiheit von nun an umfassend und im ganzen römischen Reich gelten solle. Vielleicht verfassten sie ein Rundschreiben, vielleicht bekräftigten sie auch nur ihre eigenen, in dieser Frage gleichen Ansichten. Zusätzlich legten sie fest, dass das im Zuge der Verfolgung beschlagnahmte Eigentum christlicher Gemeinden zurückgegeben werden sollte.
Ein paar Sätze zeigen, dass die Freiheit der Religionsausübung für alle gelten sollte:
„In der Erkenntnis, dass die Religionsfreiheit nicht verwehrt werden dürfe, dass es vielmehr einem jeden gemäß seiner Gesinnung und seinem Willen gestattet sein solle, nach eigener Wahl sich religiös zu betätigen, haben wir bereits früher Befehl erlassen, dass es auch den Christen unbenommen sei, den Glauben beizubehalten, den sie selbst erwählt und im Kulte bekunden…. In gesunder und durchaus richtiger Erwägung haben wir so diesen Beschluss gefasst, … dass vielmehr jedem die Freiheit gegeben werde, sein Herz jener Religion zuzuwenden, die er selbst für die ihm entsprechende erachtet.
Quelle
Während Licinius mit dieser Vereinbarung seinen Mitkaiser Maximinus Daia „auf Linie zu bringen“ versuchte und bestehende Einschränkungen der Religionsfreiheit aufhob, verfolgte Konstantin ein anderes Ziel. Er ordnete an, die Rückgabe eingezogener Besitztümer an christliche Körperschaften zu beschleunigen. Außerdem wollte er Bedenken zerstreuen, dass die nichtchristlichen Religionen bald verboten werden würden.
Die moderne Idee einer umfassenden Toleranz suchen wir selbstverständlich in einem Dokument des 4. Jahrhunderts vergeblich. Und doch lässt sein Text an moderne Freiheitsrechte denken. Wir erinnern uns: Noch in der Reformationszeit wurde die religiöse Wahlfreiheit allenfalls den Landesherren zugestanden.
Ein Blick in die Wirkungsgeschichte:
Im Februar 1913 hatte Papst Pius X. zu einer Pilgerreise nach Rom eingeladen, um mit den Gläubigen den 1600. Jahrestag des „Edikts“ zu feiern. In seiner Ansprache würdigte er, dass der christlichen Kirche durch Konstantin nach Jahren der Verfolgung das Recht eingeräumt worden sei, ungehindert das Evangelium zu predigen. Dass die Vereinbarung von Mailand aber ausdrücklich auch nicht-katholische Religionen einschloss, hatte er überlesen:
Ein Auszug aus seiner Begrüßungsansprache von Papst Pius X. (1913):
Eure Anwesenheit, liebe Kinder, erfüllt uns mit großer Freude, denn in allen Teilen der katholischen Welt wird des Jahrestages der Anerkennung und des Schutzes der Freiheit, die Jesus Christus seiner Kirche geschenkt hat, gedacht…. Wir müssen diese Freiheit für die Kirche auch von christlichen Regierungen fordern. Denn die Kirche hat den Auftrag, von Gott selbst zu lehren, und sein Wort muss alle erreichen, ohne Hindernisse, die es aufhalten, und ohne Zwänge, die es zurückhalten.
Quelle
Der Abschnitt, in dem die Kaiser die Restitution der konfiszierten Güter beschrieben, nutzt Pius zudem, um das Recht der Kirche auf ihre Besitztümer zu verteidigen:
Die Kirche hat das Recht zu besitzen, weil sie eine Gesellschaft von Menschen und nicht von Engeln ist, und weil sie die materiellen Güter benötigt, die sie von der Frömmigkeit der Gläubigen erhalten hat, und sie behält ihren legitimen Besitz für die Erfüllung ihrer Dienste, für die Ausübung des Gottesdienstes, für den Bau von sakralen Räumen, für die Werke der Nächstenliebe und um bis ans Ende der Zeiten zu leben.
Quelle
Wie schon angedeutet, war die Freiheit und Selbstbestimmung, die Kaiser Konstantin und sein Mitkaiser Licinius ihren Untertanen einräumten, von kurzer Dauer. Nur 44 Jahre nach dem Tod des Konstantin erklärte Kaiser Theodosius I. das Christentum zur einzigen erlaubten Religion und verbot die paganen Kulte. Es sollte viele Jahrhunderte dauern, bis das Prinzip einer allgemeinen Religionsfreiheit dank der Aufklärung zu einem selbstverständlichen Teil europäischer Kultur wurde.
Die freie Wahl einer Religion war, soweit ich sehe, in der Geschichte antiker Staaten unseres Kulturkreises ohne Vorbild. Deshalb freue ich mich, dass ich am Ende meines Besuches in Mailand vor der Basilika San Lorenzo Maggiore doch noch eine Statue Konstantins fand, eine Bronzekopie des antiken Originals. Sie zeigt den Kaiser mit hochgerecktem Arm, als wollte er noch heute anordnen,
„… sowohl den Christen als auch allen Menschen zum Wohle aller die freie Vollmacht zu gewähren, ihre Religion zu wählen, … damit die himmlische Gottheit uns und allen gnädig und gewogen bleiben kann.“
Quelle
Dem ist nichts hinzuzufügen, finde ich.


mehr Info:
Klaus M. Girardet, Ein konstantinisches „Toleranzedikt von Mailand“‘ im Jahr 313? Zum Problem von Jubiläumsfeiern 1913 und 2013
http://www.imprimatur-trier.de/2013/imp130603.html
Blogbeiträge zum Thema auf www.horstheller.de
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