Horst Heller

Im Sommer des Jahres 1791 – Mozart ist erst 35 Jahre jung, doch sein letztes Lebensjahr hat bereits im Januar begonnen – ist er noch einmal Vater geworden. Am 26. Juli schenkt Konstanze dem Sohn Franz Xaver Wolfgang das Leben. Der neugeborene Junge wird als eines von nur zwei der sechs Kinder des Ehepaars das Erwachsenenalter erreichen. Im Sommer und Herbst dieses Jahres erreicht Mozarts kompositorische Produktivität noch einmal einen neuen und letzten Höhepunkt. Doch seine eigene Gesundheit ist angeschlagen.
Im 23. Juni ist im Fronleichnamsgottesdienst im Stefansdom zu Wien seine Motette Ave Verum Corpus uraufgeführt worden. Erst eine Woche vorher hat er sie fertiggestellt. Weitere Verpflichtungen warten auf den kranken Komponisten. Am 6. September reist er nach Prag, um dort die Uraufführung der Oper La Clemenza di Tito zu leiten. Sie ist eine Auftragsarbeit für den kaiserlichen Hof. Zurück in Wien widmet er sich unverzüglich der Zauberflöte. Sie erklingt bereits drei Wochen später, am 30. September, in einem Theater der Wiener Vorstadt. Nebenbei stellt Mozart das berühmte Klarinettenkonzert in A-Dur für seinen Freund Anton Paul Stadler fertig, für dessen Uraufführung am 16. Oktober er ein weiteres Mal nach Prag reist. Auch eine kleine Kantate, die er seinen Brüdern von der Freimaurer-Loge versprochen hat, vollendet er und leitet die Aufführung am 15. November. Doch ein weiterer Auftrag drängt. Im Juli hatte ein Bote an Mozarts Tür geklopft und für seinen Herrn ein Requiem bestellt. Die Komposition sollte recht gut bezahlt werden. Merkwürdig war nur, dass der Auftraggeber anonym bleiben wollte.
Das Geheimnis der Identität dieses Unbekannten ist inzwischen gelüftet. Es war der 28-jährige Graf Franz von Walsegg, ein österreichischer Grundbesitzer, der selbst komponierte und private Konzerte auf seinem Schloss Stuppach an der Grenze zwischen Niederösterreich und Steiermark veranstaltete. Dazu beauftragte er talentierte Musiker, gab aber deren Werke als eigene Kompositionen aus. Nun war dem jungen Adligen seine nur 20-jährige Ehefrau verstorben. Aus Trauer über diesen Verlust beauftragte er seinen Verwalter, bei niemand geringerem als dem großen Mozart ein Requiem zu bestellen, das im kommenden Jahr an ihrem Todestag aufgeführt werden sollte.
Am 10. Oktober, einem Montag, setzt sich Mozart an die Arbeit für dieses Werk, das nach den Willen des Grafen nicht mit dem Namen Mozarts verbunden sein sollte. Dieser hätte es sich einfach machen und eine mittelmäßige Komposition niederschreiben können. Doch ein Mozart kann und will so etwas nicht. So konzipiert er ein Requiem, für die es kein Vorbild gibt. Im Orchester fehlen Flöten und Oboen, dafür bestimmen Fagotte, Trompeten, Bassetthörner und drei Posaunen den Klang und die Atmosphäre.
Während der Arbeit fordert die enorme Dichte an Reisen, Auftragswerken und Konzerten, gepaart mit den Geldsorgen der letzten Jahre, ihren Tribut. Mozarts körperliche und seelische Verfassung werden zusehends schlechter. Nur acht Wochen Lebenszeit bleiben ihm. In dieser Zeit entstehen die zwei ersten Sätze des Requiems, für einige weitere Elemente die Chorstimmen und Basslinien sowie etliche Notizzettel, die später für die Vollendung wichtig werden. Bald kann er nicht mehr selber schreiben, sondern seine Musik nur noch diktieren. In den Morgenstunden des 5. Dezembers, es ist wieder ein Montag, stirbt Mozart umgeben von Familie und Besuchern und begleitet von den inneren Klängen seines Requiems. „Lux perpetua luceat eum!“
Mozarts Witwe Konstanze war auf das Honorar für das Auftragswerk angewiesen, befürchtete aber, dass die Schlusszahlung ausbleiben würde, wenn das Werk nicht termingerecht fertiggestellt würde. So beauftragte sie einige Schüler ihres Mannes, das Requiem zu vollenden. Die gesamte Komposition sollte als seine Arbeit erscheinen. Nur so konnte sie den Anspruch auf die gesamte Summe geltend machen.
Einzig Franz Xaver Süßmayr hatte die Entstehung des Werkes von Anfang an begleitet, kannte die Ideen seines Lehrers und hatte schon bei anderen Projekten des Jahres 1791 assistiert. Er vollendete in Windeseile die angefangenen Sätze, schrieb die noch fehlenden Stücke Sanctus und Benedictus und griff auch in die von Mozart bereits vollendeten Teile Requiem und Kyrie ein, um den Makel zweier unterschiedlicher kompositorischer Handschriften zu beseitigen. Schließlich fälschte er die Unterschrift seines Meisters. Die Partitur übergab die Witwe dem Boten Franz von Walseggs, der den vereinbarten Preis zahlte und darauf bestand, dass das glücklich vollendete Werk nun sein Eigentum sei. Konstanze kämpfte aber dafür, das Requiem unter dem Namen ihres verstorbenen Mannes den Verlagen anzubieten. Erst nach einem Jahr gab der Graf nach.
Als Mozart am frühen Morgen des 5. Dezember verstarb, hatte er, davon bin ich überzeugt, sein Requiem mehr oder weniger vollständig in Gedanken zu Ende komponiniert. Er musste es „nur“ noch niederschreiben. Das allerdings fiel ihm mehr und mehr schwer. In den letzten Tagen musste er es diktieren. Noch auf dem Totenbett, so erzählt es sein „Bäsle“, seine geliebte Cousine Maria Anna Thekla Mozart, die er aus Augsburg zu sich gerufen hatte, um ihm und seiner Konstanze beizustehen, habe er noch mit den Lippen angedeutet, wie die Pauken beim Dies Irae spielen sollten.
Weder Mozart noch Süßmayr konnten damit rechnen, dass ihr Requiem mit ihrem Namen verbunden sein würde. Und doch machten sie der Welt ein musikalisches Geschenk, das uns angesichts seiner tragischen Entstehungsgeschichte anrührt. Es lässt uns des frühen Todes Mozarts gedenken und kann Menschen (nicht nur) am Totensonntag in ihrer Trauer begleiten und trösten. Dem wird sicher auch mein Freund Stefan zustimmen.
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