Straßenbahn Linie 4 in Oggersheim. Mein Schulweg folgte einst Friedrich Schillers Wanderweg und ich wusste nichts davon.

Horst Heller CC BY-SA 4.0 (Verwendung unter Namensnennung und gleichen Bedingungen ausdrücklich erlaubt.)
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Neun Jahre fuhr ich mit der Straßenbahnlinie 4 in die Schule und zurück. In der Ortsmitte von Oggersheim musste ich umsteigen. Es gab zwar schon damals, wenige Schritte von dieser Haltestelle entfernt, das kleine Museum in der Schillerstraße. Doch ich musste erst nach Thüringen und Sachsen reisen, um mich näher mit jenen sieben Wochen zu befassen, die Friedrich Schiller in meiner ehemaligen Heimat verbracht hatte. 46 Jahre nach dem Ende meiner Schulzeit will ich das Versäumte nachzuholen. Anlass ist der 240. Jahrestag der Ankunft des jungen Dramatikers in Oggersheim. Ich recherchiere die Öffnungszeiten des kleinen Schillerhauses. Am Mittwoch hat es geöffnet. Sehr gut. Ich nehme mir eine Stunde Zeit, um den Dichter in Oggersheim zu besuchen.

Als ich das Gebäude durch den Garten betrete, wässert ein Vorstandsmitglied des Heimatkundlichen Arbeitskreises gerade die Beete. Er begrüßt mich freundlich im Ludwigshafener Singsang, der mir früher so vertraut war, geleitet mich ins Obergeschoss des Hauses und zeigt mir das Gästezimmer, in dem Schiller gewohnt hat.

Es ist vielleicht zwölf Quadratmeter groß. „Schiller teilte dieses Zimmer sich mit seinem Freund Andreas Streicher, einem Musiker“, erklärt mir der freundliche Herr. „Das transportable Klavier musste neben dem Schreibtisch für den Dichter und einem Bett Platz finden.“ Es gibt hier keinen Platz für ein zweites Bett, denke ich. Die beiden Freunde, so erfahre ich später, siezten sich und müssen sich bei der Nutzung des Nachtlagers abgewechselt haben.

Mein Gastgeber hat sich lange und gründlich mit der Oggersheimer Episode von Schillers Leben beschäftigt. Er erzählt mir, dass sich gegenüber die Poststation befunden habe, in der die Kutschen eintrafen und die Pferde gewechselt wurden. Im Erdgeschoss des Gasthofes konnten die Tiere versorgt werden, im Obergeschoss stand dieses eine Zimmer, in dem wir gerade stehen, für durchreisende Übernachtungsgäste zur Verfügung. Ich bin der einzige Besucher und erhalte so kostenlosen Privatunterricht in der Lokalgeschichte des Stadtteils von Ludwigshafen. Ich bin dankbar, denn so schließt sich nach vielen Jahren eine Bildungslücke.

Am 22. September 1782 hatten Schiller und Streicher die Residenzstatt Stuttgart in Richtung Südosten verlassen. Es war eine unerlaubte Ausreise, bei der ihnen zugutekam, dass an diesem Tag die Tore erst spät geschlossen wurden. Unter den Tarnnamen Dr. Ritter und Dr. Wolf passierten sie das Esslinger Tor. Damit legten sie eine falsche Fährte. Wenn ihr Fehlen auffiel, sollten sie in Esslingen gesucht werden. Die Namen sind falsch, denke ich, aber zumindest bei Schiller ist der Doktortitel nicht erschwindelt. Mit einer Dissertation über „den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“ war er zwei Jahren zuvor zum Dr. med. promoviert worden.

Als sie Stuttgart verlassen hatten, dirigierten sie ihre Kutsche um die Stadt herum nach Norden. Noch in der Nacht wollten sie die Grenze zur Kurpfalz passieren. Ihr Ziel war Mannheim, meine Geburtsstadt. Am dortigen Nationaltheater war im Januar Schillers erstes Drama Die Räuber mit großem Erfolg aufgeführt worden. Um an der Premiere teilzunehmen, hatte er ohne Erlaubnis seinen Dienstort verlassen und war dafür mit 14 Tagen Lagerhaft bestraft worden. Sein karges Brot verdiente er als Regimentsarzt, doch in der Kunst sah er seine Berufung. Schriftstellerische Aktivitäten, die nicht medizinischer Natur waren, hatte ihm der Herzog allerdings nun untersagt. Er musste also weg, wollte er nicht vollends verkümmern. In Streicher fand er einen Gleichgesinnten für die Idee einer nächtlichen Flucht. Sie war für Schiller aber besonders riskant. Wäre er aufgegriffen worden, hätte ihm eine Anklage als Deserteur gedroht.

Noch in der Nacht erreichten die beiden Bretten, die erste Stadt jenseits der Grenze. Dort steuerten sie die Poststation an, ließen sich selbst und die Pferde verpflegen, schickten die gemietete Kutsche zurück und reisten mit der Postkutsche weiter.

Schiller dachte an den Erfolg der Räuber in Mannheim, und so ruhten seine Hoffnungen auf dem Nationaltheater der Stadt. Er hatte sein neues Drama bei sich, den Fiesko, und erhoffte sich von Wilhelm Meyer, dem Regisseur des Theaters, Fürsprache beim Direktor und einen Vorschuss. Doch der ließ ihn wissen, dass Intendant Dahlberg verreist war, ausgerechnet nach Stuttgart.

Er musste sich also gedulden. So beschlossen sie, die Distanz zu Stuttgart zunächst weiter zu vergrößern. Ihre Weiterreise führte sie nach Darmstadt und Frankfurt, dann nach Mainz und Worms. Dort wartete ein Brief von Wilhelm Meyer auf sie. Der Intendant habe den Fiesko in der vorliegenden Form abgelehnt und verlange eine Umarbeitung. Schiller solle sich diese Mühe machen, empfahl Meyer, aber die Stadt Mannheim solle er meiden. Spione gebe es allerorten, aber hier seien sie gewiss zahlreich. Er empfahl das ruhige Oggersheim, unweit von Mannheim. Dort gebe es eine Unterkunft, Viehhof genannt.

Schiller griff nach diesem Strohhalm und traf zusammen mit Streicher am 13. Oktober 1882 in Oggersheim ein. Er nannte sich nun Dr. Schmidt, und während Streicher auf dem Fortepiano spielte, machte er sich an die Überarbeitung seines Fiesko und skizzierte im kleinen Gästezimmer das Bürgerliche Trauerspiel, das später unter dem Titel Kabale und Liebe weltberühmt werden sollte.

Ermutigende Nachrichten aus Mannheim blieben aber aus. So beschlossen sie, Oggersheim zu verlassen. Zusammen mit Meyer wanderten sie nach Norden. In Worms trennten sich die Freunde. Schiller hatte eine Mäzenin gefunden und nahm das Angebot an, in Thüringen ihr Gast zu sein. Streicher kehrte mit Meyer nach Mannheim zurück und arbeitete dort eine Zeitlang als Klavierlehrer.

Nicht ganz sicher sei, ob die beiden vor ihrer Abreise die Kosten ihres Aufenthalts vollständig bezahlen konnten, erzählt mir mein Gastgeber noch. Ein Jahr später, als der Dichter doch noch ein einjähriges Engagement am Nationaltheater erhielt, sei er aber nochmals hier gewesen. Spätestens dann habe er möglicherweise noch offene Rechnungen beglichen. In einem Brief habe er sich sehr nett über die Oggersheimer geäußert. Auch in der Zeit des Prekariats zahlt er seine Zeche, wenn vielleicht auch nachträglich. Anständig!

Ich schaue auf die Uhr, es ist Zeit aufzubrechen. Ich bedanke mich für die lehrreiche Stunde. Eine Frage habe ich aber noch. Nach Mannheim sei es doch ein weiter Weg. Wie Schiller und sein Freund denn dorthin gekommen seien, möchte ich wissen. Etwa mit der Kutsche?

Zu Fuß, antwortete mir der Oggersheimer Heimatforscher. Schiller sei fast täglich nach Mannheim gelaufen. Am frühen Morgen hin, bei Nacht zurück. Bei Tageslicht hätte er Angst vor Entdeckung haben müssen. Der Weg sei nicht schwer zu finden, fügt mein Gastgeber noch an. Auf einer historischen Karte zeigt er mir die Straße, die von Oggersheim schnurgerade in westlicher Richtung zum Rhein führte. Sie sei zu Schillers Zeiten schon befestigt und auf beiden Seiten von Pappeln gesäumt gewesen.

Da muss ich wieder an die Straßenbahnlinie 4 denken. Ich kenne diese Straße. Sie war mein Schulweg und führt bis heute kerzengerade von Oggersheim nach Ludwigshafen. Die für diese Stadt so typischen Pappeln sind Platanen gewichen, aber der Name der Straße erinnert mich daran, dass Schiller sieben Wochen lang voller Hoffnung auf den kleinen Durchbruch auf ihr gewandert war. Es ist die Mannheimer Straße.

Die Mannheimer Straße zwischen Oggernsheim und Ludwigshafen/Mannheim

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