
Horst Heller
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Schon vor meiner Reise nach Weimar hatte er mich in seinen Bann gezogen. Er gilt als eines der ersten, ja vielleicht als das erste nicht-figürliche Kunstwerk in Deutschland. Sein Name: Agathe Tyche, der Stein des guten Glücks.
In der Goethestadt mache ich mich auf die Suche nach dem berühmten Gartenhaus des Dichters. Das am Rande des Parks an der Ilm gelegene Gebäude ist leicht zu finden. Gleich daneben hatte der junge Goethe das fragliche Denkmal errichten lassen. Doch zu meiner Enttäuschung ist das Kunstwerk eingepackt, in einer stabilen Verschalung aus Holz und Metall vor meinen Augen verborgen. Ich frage nach: Im Winter wird die Steinmetzarbeit so vor Frost geschützt. Das gute Glück ist für mich unsichtbar – im ersten Moment bin ich traurig.
Der 26-jährige Goethe war auf Einladung des Herzogs Carl August nach Weimar gekommen. Dieser machte dem jungen Dichter das ehemalige Weinberghaus nebst Grundstück zum Geschenk. Goethe widmete sich mit Leidenschaft der Renovierung des Hauses und der Gestaltung des Gartens. Bald schon wurde ihm bewusst, dass Weimar keine weitere „Episode“ seines Lebens werden würde. Die Bekanntschaft mit der sieben Jahre ältere Charlotte von Stein mag dazu beigetragen haben. Sie brachte in sein unruhiges Leben – vielleicht zum ersten Mal – so etwas wie Stetigkeit und Ruhe. Als er später in das repräsentative Stadthaus am Frauenplan umzog, blieb das Gartenhaus am Park sein Lieblingsplatz, seine Rückzugsstätte und sein Kreativort in Weimar. Goethe gab die Idee auf, in seine Geburtsstadt zurückzukehren. In Weimar endete die Wanderschaft der vergangenen Jahre, die ihn von Frankfurt nach Leipzig, Straßburg, wieder Frankfurt und nun nach Thüringen geführt hatte. Er war nun angekommen, in Weimar und vielleicht auch ein wenig bei Frau von Stein.


Der junge Schriftsteller suchte nun nach einem sichtbaren Ausdruck seines neuen Lebensgefühls. Mit welchem Bild, mit welchem Symbol konnte er es darstellen? Er fragte nach bei Adam Friedrich Oeser, seinem Kunstlehrer aus Leipzig. Zusammen entschieden sie sich für zwei geometrische Grundformen, die sie miteinander kombinierten. Ein Würfel stand für das Gefestigte und das Beständige, eine Kugel für das Flüchtige und Bewegliche. Schnell nahm die Idee Gestalt an, 1777 wurde das Werk im Garten seines Hauses aufgestellt. So war es auch von dem Wohnhaus der Charlotte von Stein aus zu sehen. Er gab ihm den Namen der griechischen Göttin Tyche, die als mythologische Patronin des Zufalls und Beschützerin des Glücks verehrt wurde.

Vielleicht hatten Goethe und Oeser, als sie das Kunstwerk planten, ein Bild von Michelangelo vor Augen, das um 1553 entstanden war. Es trägt den Namen „Der Traum vom menschlichen Leben“ und zeigt einen jungen Mann, auf einem Quader sitzend, der mit seinen muskulösen Armen eine große Kugel umarmt, ja sich an sie klammert. Im Inneren des Sockels, auf dem er ruht, liegen die Masken seines Lebens. Er wird umringt von figürlichen Darstellungen, die ihn verlocken. Auf welches Angebot soll er eingehen? Welchem Glücksversprechen soll er folgen?
Mit beiden Händen hält der junge Mann die Kugel fest. Mit aller Kraft muss er verhindern, dass ihn das flüchtige Glück seines Lebens verlässt, die Kugel ist dem Rand schon verdächtig nahegekommen. Glücklicherweise weckt ein Engel den Verwirrten und lenkt seinen Blick auf das Wesentliche, das wirklich Wertvolle seines Lebens.
Goethe und Oeser nahmen die beiden Motive des Michelangelo, Quader und Kugel, auf. Die Kugel liegt nun aber mittig auf dem Würfel. Dort ist sie ist zur Ruhe gekommen und muss nicht mit untauglichen Mitteln festgebunden oder festgehalten werden. Für einen jungen Dichter sind das reife Gedanken. Dem Glück will er nicht mehr nachjagen. Es liegt nun still vor ihm und geht nicht mehr.
Seit fast 250 Jahren regt der Stein des guten Glücks die Besucher des Weimarer Stadtparks an, über das Glück nachzudenken. Und seit den Wintertagen dieses Jahres bereichert seine Formensprache auch mich. Dass es bei meinem Besuch durch die fachgerechte Verpackung vor meinen Augen verborgen war, ändert nichts daran. Ich muss das Denkmal nicht mit eigenen Augen gesehen haben. Es entsteht durch die Kraft der Imagination in meinem Kopf. Das Kunstwerk ist wie das Glück. Es mag eine Zeitlang für mich unsichtbar sein, aber es ist da.
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