
Station 1: Ende des 15. Jahrhunderts.
In Innsbruck pulsiert das Leben. Kaiser Maximilian hält sich mit seinem Hofstaat gerne hier auf. Die Stadt am Inn ist ein beliebtes Ziel von jungen Männern, die einen Meister suchen. Die Innsbrucker Mädchen können sie bei Volksfesten, religiösen Feiern, auf dem Markt oder in der Gastwirtschaft kennenlernen. Geselligkeit, Freundschaft, Liebe, aber auch Abschiede und Trennung gehören zu ihrem Leben und finden ihren Ausdruck in Gesängen und Gedichten. Ein Abschiedslied aus Innsbruck ist erhalten.
Innsbruck, ich muss dich lassen,
ich fahr dahin mein Straßen,
in fremde Land dahin.
Mein Freud ist mir genommen,
die ich nit weiß bekommen,
wo ich Elend (Ausland) bin.
Der Komponist Heinrich Isaac, der in Florenz bei Lorenzo de’ Medici wirkte und danach in Innsbruck und Salzburg Kaiser Maximilian diente, komponierte einen vierstimmigen Chorsatz zu dieser schlichten, zurückhaltenden und traurigen Melodie. Seufzermotive am Ende jeder Strophe sind eine musikalische Darstellung des Kummers und unterstreichen den Abschiedsschmerz. So könnte sie geklungen haben:
Station 2: Die Reformation (1517)
Heinrich Isaac starb im Jahr des Thesenanschlags. Mit der reformatorischen Bewegung entstand auch eine neue Kultur des geistlichen Liedes. Die neuen Gottesdienstformen verlangten Liedgut mit reformatorischen Texten in der Landessprache und gut singbaren und bekannten Melodien. Luther selbst dichtete zahlreiche Kirchenlieder und verwendete dazu volkstümliche Melodien seiner Zeit.
So hielt die Melodie aus Innsbruck Einzug in die lutherischen Gesangbücher. Die älteste geistliche Textfassung eines unbekannten Dichters ist das Sterbelied „O Welt, ich muss dich lassen“. Es entstand um 1555. Die Melodie der Wanderburschen beim Abschied von ihrer Liebsten erklang nun mit religiösem Text auf dem Friedhof.

Station 3: Paul Gerhardt (17. Jahrhundert)
Von dem protestantischen Liederdichter und Theologen Paul Gerhardt stammen zwei weitere Kontrafakturen, die der bekannten Melodie einen neuen Text gaben. Sie wurden gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges geschaffen und fanden in das evangelische Gesangbuch (EG), eines sogar in das katholische Gotteslob (GL). Es sind dies das Passionslied „O Welt, sieh hier dein Leben“ (EG 84) und das Abendlied „Nun ruhen alle Wälder“ (EG 477, GL 101).
Station 4: Johann Sebastian Bach (1734)
Die Krönung in der Rezeptionsgeschichte der Innsbrucker Melodie in Kombination mit dem geistlichen Text von Paul Gerhardt gelang keinem Geringeren als Johann Sebastian Bach, und das gleich mehrfach. In seiner Kantate „In allen meinen Taten“ (BWV 97) aus dem Jahre 1734 griff er im Eingangschor und im Abschlusschoral auf diesen Choral zurück und verarbeitete ihn mit barocker Meisterschaft.
Auch in seinen berühmten Passionen findet sich die leicht veränderte Melodie des altes Volksliedes an mehreren Stellen. Sowohl in der Matthäuspassion als auch in der Johannespassion erklingt sie mit dem Text von Paul Gerhardt „Wer hat dich so geschlagen?“
Station 5: Nochmals Johann Sebastian Bach: „Bin ich’s, Herr?“
In der Matthäuspassion verarbeitet sie der große Thomaskantor an der Stelle, an der der Evangelist erzählt, dass sich Jesus mit seinen Jüngern zum letzten Abendmahl versammelt hatte. Nachdem das Mahl beendet war, sprach er: „Wahrlich, ich sage euch, einer unter euch wird mich verraten.“ Die Jünger erschraken und „wurden sehr betrübt und huben an, ein jeglicher unter ihnen, und sagten zu ihm: Herr, bin’s ich?“ An dieser Stelle stimmt der Chor die dritte Strophe des Paul-Gerhards-Liedes an. Stellvertretend für die gläubige Gemeinde beantwortet er die Frage der Jünger „Bin ich’s, Herr?“
Ich bin’s, ich sollte büßen
an Händen und an Füßen
gebunden in der Höll‘.
Die Geißeln und die Banden
und was du ausgestanden
das hat verdienet meine Seel.
Station 6: Johannes Brahms (1896)
Fast 170 Jahre nach der Erstaufführung der Matthäuspassion komponierte Johannes Brahms im Jahr 1896 ein Orgelvorspiel zu dem Choral „O Welt ich muss dich lassen“. Es ist eines seiner letzten Werke. Als er im April des folgenden Jahres verstarb, war das Autograph dem Verlag noch nicht zugegangen. Seine Erben erfüllten den letzten Willen des Komponisten und ermöglichten die Veröffentlichung einer weiteren ergreifenden Vertonung der Innsbruck-Melodie. Das Abschiedslied der wandernden Gesellen wurde so zur Melodie des Abschieds von dem großen romantischen Komponisten.
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