Die Uraufführung von Händels Messias vor 280 Jahren kam zwei Krankenhäusern zugute. Seitdem ist das Werk ein Symbol für Wohttätigkeit.

Die Damen ohne Reifröcke, die Herren ohne Degen!“ Dieser Dresscode galt bei der Uraufführung von Händels Messiah am 13. April 1742. Die Veranstalter rechneten mit reichlich Publikum und baten deshalb, auf allzu raumgreifende Kleidung und gefährliche Accessoires zu verzichten. Social Distancing war vor 280 Jahren nicht erforderlich. Das Konzert war mehr als ausverkauft.

Anlässlich dieses Jubiläums in Zeiten von Krieg und Pandemie darf daran erinnert werden, dass diese Uraufführung in Dublin ein Benefizkonzert war, dessen Erlös unter anderem zwei Krankenhäusern zugute kam: dem Mercer’s Hospital in der Stephen’s Street and der Charitable Infirmary am Inns Quay. Nach der Uraufführung führte der Komponist sein Oratorium einmal jährlich für einen guten Zweck auf. Die Einnahmen gingen jedes Mal an ein Kinderheim in London.

Bis heute gibt es in London eine Tradition, die sich Messiah from Scratch (frei übersetzt: Messias einfach so) nennt. 3000 Chorsängerinnen und -sänger führen im Really Big Chorus Händels Messiah in der Royal Albert Hall auf. Alle Zuhörer sind zugleich Mitwirkende. Profi-Sängerinnen und Sänger musizieren mit Laienchören – auch ohne Probe! Der Erlös ist einen guten Zweck bestimmt.

Ungeschriebenes Gesetz beim Messiah from Scratch ist, dass beim Halleluja alle im Saal aufstehen. Das tat schon König George II., der das Oratorium 1750 in London hörte und fälschlicherweise dachte, dieser atemberaubende Chorsatz sei das Ende des Werks. Da irrte der König, aber vielleicht hatte er in diesem Moment das Gespür für ein Geheimnis des Messias.

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„Weder in diesem noch in einem anderen Königreich ist ein Oratorium von dieser Schönheit je aufgeführt worden“, urteilte die Presse nach der Premiere. Als Händel 17 Jahre später starb, hatte das Oratorium den Kultstatus bekommen, den es bis heute behalten hat. Bis heute ist es zudem ein Synonym für Wohltätigkeit geblieben.

Darf man angesichts der Schönheit und des Erfolgs des Oratoriums auch etwas Kritisches äußern? Vielleicht überhebt sich der Autor, wenn er im Folgenden die Textauswahl des Messias theologisch hinterfragt. Er tut es dennoch.

„And he shall purify“ mit Réne Jakobs, dem Chor des Clare College und dem Freiburger Barockorchester

He will purify the sons of Levi (Maleachi 3,3)
„Er wird die Söhne Levis reinigen.“ Levi war einer der Söhne des biblischen Patriarchen Jakob. Seinen Nachkommen wurde später der Dienst am Jerusalemer Tempel übertragen. Viele Leviten waren deshalb Priester. Der Prophet Maleachi beklagte, dass das Priestertum seiner Zeit Mängel beim Kult zuließ. Er kritisierte Korruption und soziale Missstände und kündigte an: Wenn der Messias kommt, dann wird der Tempeldienst wieder so sein, wie Gott es will.
Im Libretto des Messias wird dieser prophetische Satz aus seinem historischen Kontext herausgelöst. Die Söhne Levis sind nun die Hörerinnen und Hörer der Christusbotschaft. Worte der Propheten in christlichem Kontext neu zu deuten, ist nicht unzulässig. Nur darf dabei nicht vergessen werden, dass sie sich in erster Linie an eine andere Hörerschaft richteten.

Nicholas Sharratt, Tenor in der Cadogan Hall, London, 16. September 2012

Comfort ye, comfort ye, My people (Jesaja 40,1)
„Tröste dich, tröste dich, mein Volk.“ Wer ist mein Volk? Der Ausdruck meint Juden des 6. vorchristlichen Jahrhunderts in Babylonien. Der Satz stammt aus dem Prophenbuch Jesaja und verheißt den Angesprochenen, dass sie bald aus dem Exil zurückkehren dürften. Und tatsächlich: Die politische Situation im Zweistromland änderte sich. Jüdische Familien kehrten zurück. Jerusalem wurde wieder aufgebaut und der jüdische Tempel wieder errichtet.
Schon in alttestamentlichen Zeiten wurde die Prophezeiung des Jesaja mit dem Kommen des Messias verbunden. Kein Wunder also, dass die Christen – und eben auch Händels Messias – diese Weissagung auf Jesus und das Weihnachtsfest bezogen. Doch welches Volk wollte Jesaja trösten? Die Christen? Nein. Die Engländer? Nein. Der Prophet meinte das Volk der Juden.
In der Literatur ist zu lesen, dass die Briten der Zeit Händels keine Probleme hatten, sich selbst mit dem auserwählten Volk zu identifizieren. Sie bezogen die Verheißungen des Alten Testaments einfach auf sich. Händel und sein Librettist Jennens sahen darin kein Problem, Bibelwissenschaftler der Gegenwart aber schon.

„I know that my redeemer liveth“, gesungen von Henry Jenkinson, einem 11-jährigen Knabensopran

I know that my redeemer liveth (Hiob 19,25)
„Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“ Diese wunderbare Arie aus dem dritten Teil des Messias zitiert den unschuldig leidenden Hiob, den alles Unglück der Welt getroffen hatte. Verzweifelte er? Nein, denn „er wusste, dass sein Erlöser lebt.“
Das Buch Hiob sammelt eine Unmenge von Antworten auf die Frage, warum guten Menschen Böses widerfährt, und schließt mit der theologisch einfachen, menschlich aber schwierigen Antwort: Gott lenkt das Schicksal der Welt und des Einzelnen, und er muss sich dafür nicht rechtfertigen. Hiob glaubte dennoch fest daran, dass sich das Blatt wenden wird. Wie und wann das geschehen würde, überließ er Gottes Ratschluss. Nur eines war klar: Es würde noch in diesem Leben geschehen.
Der Messias stellt aber das Wort Hiobs in einen neuen Kontext: The promise of bodily resurrection and redemption from Adam’s fall ist die Szene überschrieben, in der diese Arie gesungen wird. Hiob hätte sich verwundert die Augen gerieben: … bodily was?? Die Idee einer Auferstehung aller Toten ist dem Buch Hiob völlig fremd. Wenn die christliche Theologie Worte des Alten Testament zitiert, um mit ihnen das Kommen des Erlösers zu deuten, dann sollte sie vermeiden, Zitate entgegen ihrem urprünglichen Sinn auszulegen.

Mit den Worten des Alten Testaments ist es wie mit Liebesbriefen, die nicht an mich gerichtet sind. (Reading Someone Else’s Mail, Paul van Buren)
Es ist nicht verboten, fremde Post zu lesen, wenn sie veröffentlicht ist. Doch wenn in ihnen von Liebeserklärungen, Anklagen, Drohungen oder Treueschwüren die Rede ist, tut der Leser gut daran, nicht zu vergessen, das sie nicht ihm gelten. Er kann sie dennoch mit Gewinn lesen, auch wenn die Briefe nicht an ihn gerichtet sind.
So ist es auch mit den Worten der Propheten. Sie sind ursprünglich nicht zu uns gesprochen und doch wertvoll zu lesen.

Blogbeiträge zum Thema auf www.horstheller.de
20.11.2019: Darf der Erlöser auf der Opernbühne stehen? Warum Händels Messias in London zunächst die Gunst des Publikums nicht erhielt.
02.10.2020: Freude schöner Götterfunken. Bis 1990 verlief die innerdeutsche Grenzen genau in Takt 697 bei „diesem Kuss der ganzen Welt.“
29.08.2021: Atemos in Birmingham. Bei seiner Uraufführung fand Mendelssohns Elias überwältigende Zustimmung. Doch welchen Preis musste der Komponist dafür bezahlen?
30.01.2022: „Wenn nicht dein Interdict mich störte.“ Warum die Komponistin Fanny Hensel lange zögerte, ihre Musik öffentlich zu präsentieren und wie sie schließlich ihre Selbstzweifel überwand
13.02.2022: „Sei mir ein David!“ Wie der 12-jährige Mendelssohn dem 72-jährigen Goethe zum ersten Mal begegnete und warum der alte
Dichter den jungen Felix, der auf seinem Flügel fröhlich improvisierte, so sehr ins Herz schloss.
13.04.2022: Die Uraufführung von Händels Messias vor 280 Jahren kam zwei Krankenhäusern zugute. Seitdem ist das Werk ein Symbol für Wohttätigkeit.
15.04.2022: „O Welt, ich muss dich lassen.“ Wie ein Lied der Wanderburschen zu einem Passions- und Beerdigungschoral wurde. Sechs Stationen einer Melodie
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