„Wie lieblich sind deine Wohnungen.“ Ein uraltes Sehnsuchtslied und ein deutsches Requiem

Johannes Brahms (1866)

Johannes Brahms war ein guter Bibelkenner. Für das Herzstück seines Requiems suchte Brahms einen geeigneten Text. In seiner Lutherbibel fand er drei Verse eines uralten Pilgerliedes:

Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth!
Meine Seele verlanget und sehnet sich
nach den Vorhöfen des Herrn;
mein Leib und Seele freuen sich
in dem lebendigen Gott.

Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth!
Wohl denen, die in deinem Hause wohnen,
die loben dich immerdar.

Dieser 84. Psalm wird der Familie des Korach zugeschrieben. Wer war Korach? Niemand weiß es genau. Möglicherweise handelt es sich um eine angesehene Musikerfamilie, die den Gesang der Pilger anleitete, die nach Jerusalem wanderten. Ihr Ziel war der Tempel, von dem man glaubte, dass der Herr Zebaoth, der Herr der himmlischen Heerscharen, dort – unsichtbar für Menschen – auf einem imaginären Thron saß.
Deshalb war das Betreten des eigentlichen Tempelgebäudes außer für die Priester natürlich tabu. Aber auf den großen Plätzen rings um das den Tempel wurden Pilgerlieder gesungen, angeleitet von Vorsängern und Musikern wie Korach.

Der Tempelberg in Jerusalem 2019

Brahms wählte für den Text des zentralen Satzes seines Oratoriums also ein altes Sehnsuchtslied. Wer den Tempel besuchte, war Gott ganz nah. Die Menschen aber, die im oder am Tempel wohnten oder arbeiteten, hatten es besonders gut, denn sie waren dauerhaft in seiner Nähe. „Wohl denen, die in deinem Haus wohnen!“ Brahms fand nun, dass die Verstorbenen auch bei Gott „wohnen“ und nahm deshalb diesen Psalmvers in seine Komposition auf. Er nannte sie „Ein deutsches Requiem“. Doch es lag ihm fern, damit den aufkommenden Nationalismus seiner Zeit damit zu befeuern. Er wählte Texte in deutscher Sprache, weil sie von allen verstanden werden sollten.

Obwohl er seiner Komposition den traditionellen Namen der Totenmesse gab, dachte der 32-jähirge nicht an eine gottesdienstliche Aufführung. Es ging ihm nicht um die Toten, sondern um die Tröstung der Lebenden. Nicht den Verstorbenen widmete er seine Musik, sondern den trauernden Zurückbleibenden. Zehn Jahre vergingen, bis alle sieben Sätze komponiert waren. Gut Ding wollte Weile haben, denn er hatte keinen Anlass vor Augen, zu dem dieses Werk erklingen sollte.

Sein musikalisch und textlich unkonventionelles Oratorium, das ausschließlich biblische Texte vertonte, enthält übrigens keine ausgesprochen christliche Botschaft. Weder singt es vom Leben nach dem Tod noch fällt der Name Jesus. Vielleicht hat das aber neben der melancholisch-getragenen und dennoch feierlichen und von Dur-Tonarten geprägten Musik entscheidend zum Erfolg des Werkes beigetragen. Bis heute kann sich kaum jemand, der es hört, sei er katholisch, evangelisch, tief gläubig oder „religiös-unmusikalisch“, seiner quasi-himmlischen Atmosphäre entziehen.

Bevor er es der Öffentlichkeit vorstellte, legte Brahms die Klavierfassung von „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ seiner Freundin Clara Schumann vor und bat sie um ihr Urteil. Sie schrieb ihm daraufhin „… dass ich ganz und gar erfüllt bin von deinem Requiem. Es ist ein ganz gewaltiges Stück. Der tiefe Ernst, vereint mit allem Zauber der Poesie, wirkt wunderbar, erschütternd und besänftigend.“

Die Melodie, die Korach und seine Musiker anstimmten, kennen wir nicht. Die von Johannes Brahms aber schon.

Wie lieblich sind deine Wohnungen, Royal Concertgebouw Orchestra, Netherlands Radio Choir, Leitung: Mariss Jansons

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