Weihnachtsstern aus Stacheldraht, oder: Die Krippe von Wietzendorf, in der der Ochse fehlt.

Horst Heller

Die Krippe aus Wietzendorf steht heute im Museo della Basilica di S. Ambrogio

Für viele der 6000 italienischen Kriegsgefangenen war es schon der zweite Winter in Gefangenschaft im niedersächsischen Wietzendorf. Die Lebensbedingungen in diesem Lager waren unmenschlich. Es war winterlich kalt, feucht und dunkel. Die Verpflegung, wenn man sie denn so nennen konnte, war rationiert oder blieb ganz aus. Kranke wurden nicht versorgt. Hunger und Einsamkeit kamen hinzu. Dutzende starben im Lager.

Die Inhaftierten waren Offiziere der italienischen Armee und stammten aus unterschiedlichen Regionen Italiens. An diesem Ort des Elendes suchten sie nach einem spirituellen Mittelpunkt, der ihnen Hoffnung und das Gefühl der Gemeinschaft geben konnte. Sie entschlossen sich, gemäß italienischer Tradition eine Weihnachtskrippe zu bauen, die die Vielfalt ihrer Heimat zeigte. Am 3. November 1944 begannen sie mit der Arbeit, einen Tag vor dem heiligen Abend wurde sie vollendet.

Das Werk des Künstlerkollektivs ist heute in Mailand ausgestellt. Die Krippe steht wie auf eine Bühne, deren Bühnenbild die Baracken des Lagers zeigt. Wachtürme und Zäune sind allgegenwärtig, die Szene ist wie das Lager selbst mit Stacheldraht eingezäunt. Die Figuren sind etwa dreißig Zentimeter hoch und enthalten ein „Skelett“ aus Stacheldraht, von dem die Gefangenen zuvor mit bloßen Händen die Dornen entfernt hatten, damit er gebogen werden konnte. Neben Maria mit ihrem Kind und Josef stehen eine lombardische Bäuerin, ein Dudelsackspieler aus den Abbruzzen, ein Hirte aus Kalabrien und eine Weberin, die die italienische Flagge herstellt. Auch ein Soldat, ein Mönch und ein Feuerwehrmann, sogar ein historischer lombardischer Krieger sind zum Stall gekommen.

Die Rüstungen, Kronen und Geschenke der Könige sind aus Blechdosen geschnitten, die Köpfe der Figuren mit einem Pfadfindermesser aus Birkenholz geschnitzt. Jeder der Männer steuerte etwas bei, das er sicher auch gerne behalten hätte. Die Decke, mit der das Jesuskind zugedeckt ist, war zuvor das Seidentuch eines Mailänder Leutnants gewesen. Der Turban eines der Könige ist von einem Pyjama abgetrennt worden, die Halskette des anderen Sterndeuters war zuvor ein Armband gewesen. Die Schnürsenkel sind aus Taschentüchern geschnitten, die die Freundinnen den Männern geschenkt haben könnten, als diese in den Krieg zogen. Die Haare und Bärte der Männer wurden aus dem Mantel eines Offiziers aus Como gefertigt, die Heiligenscheine schließlich sind Gitarrensaiten eines Soldaten aus Forlì. Damit überhaupt an den Winterabenden gearbeitet werden konnte, opferte jeder ein Gramm Margarine seiner Tagesration, die eine Kerze nährte.

Das Kunstwerk dieses Winters ist weit mehr als ein Ausdruck von Heimweh. Es ist ein Symbol des Willens jedes einzelnen Gefangenen, auch da noch ein Mensch zu sein, wo er seiner menschlichen Würde beraubt werden sollte. Am Heiligen Abend des Jahres 1944 versammelten sich die Häftlinge um ein Symbol ihrer Hoffnung, Solidarität und Humanität.

Als sie im April 1945 befreit wurden, nahmen sie die Krippe, Symbol ihrer Hoffnung auf Befreiung, mit nach Italien. Sie ist jetzt im Museum der Basilika San Ambrogio im Milano ausgestellt. Dort bewacht allein der Esel das neugeborene Kind. Den Ochsen ließen die Befreiten im Lager. Sie wollten, dass er den vierzig Mitgefangenen beistand, die das Leid im Lager nicht überlebten. Die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten hat sich schon vor Jahren auf die Suche nach ihm gemacht. Leider ist er nicht erhalten.


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