Warum es immer wieder Frühling wird. Persephone und die biblische Schöpfungserzählung. Eine religionspädagogische Überlegung

Horst Heller (CC BY)
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Der Unterweltgott Hades und seine unglückliche Ehefrau Persephone (koloriert)

Schon immer wollten Menschen den Dingen auf den Grund gehen. Warum haben unsere Soldaten den Krieg verloren? Warum wachsen im Winter keine Blumen? Wenn sie eine Antwort gefunden hatten, kleideten sie sie in eine Geschichte. Im alten Griechenland beobachteten die Menschen mit Neugier den Wechsel der Jahreszeiten. Kalte und heiße Monate wechselten sich ab. Im Frühjahr wuchsen die Pflanzen und blühten, im Winter aber kam das Leben der Natur zum Stillstand. Seit Menschengedenken war das so. Wann, so fragten sie sich, hatte dieser Kreislauf eigentlich begonnen, und welche Mächte hatten ihn in Gang gesetzt? Weil der Rhythmus der Jahreszeiten unveränderlich war, konnte es nur mit den Göttern zu tun haben.

In der Fantasie der Menschen lebten die Götter ähnlich wie die Menschen: Sie versammelten sich an großen Tischen, aßen, tranken und beratschlagten, hatten Geheimnisse voreinander, liebten und hassten sich. Sie konnten sich freuen und traurig sein, einander verspotteten und betrügen, trösten oder ratlos sein. Nur eines war anders als bei den Menschen: Sie waren unsterblich.

Über die Entstehung der Jahreszeiten erzählten sich die alten Griechen eine Geschichte. Sie beginnt mit Hades, einem Gott, der das ganze Jahr in der Dunkelheit unter der Erde wohnte.

Er verliebte sich in das Mädchen Persephone, eine junge hübsche Göttin, die am liebsten mit ihren Freundinnen zusammen war, die Blumen und die Sonne liebte. Wie konnte er sie zu sich holen? Freiwillig würde sie sicher nicht mit ihm in die Unterwelt gehen. Er bat seinen Bruder Zeus, den mächtigsten der Götter, ihm zu helfen. Zeus lockte Persephone von ihren Freundinnen weg und gab Hades die Gelegenheit, sie in die Unterwelt zu entführen. Der schlich sich von hinten an, umschlang sie und trug sie auf seinem Streitwagen, der von vier Pferden gezogen wurde. Mit einem Arm trieb er die Pferde an, mit dem anderen hielt er sie fest und zwang sie mit ihm in die Unterwelt zu kommen. Als sie dort angekommen waren, war sie gefangen. Denn niemand kann ohne Hilfe der Götter aus der Welt der Toten. zu den Lebenden zurückkehren. Das war damals so, und das ist heute noch immer so.

Als Demeter, Persephones Mutter, merkte, dass ihre Tochter verschwunden war, suchte sie überall nach ihr, fand sie aber nicht. Da wurde ihr gesagt: „Hades, der Gott der Unterwelt hat Persephone entführt.“ Demeter erschrak und beschwerte sich bei Gott Zeus. „Du musst etwas unternehmen!“ Zeus aber zuckte mit den Schultern. Da wurde Dementer zornig und ihr Herz wurde eiskalt. Weil Demeters Herz kalt wurde, hörten die Pflanzen auf zu wachsen. Es wurde Winter auf der Erde und das Leben erstarb.

Persephone in der Unterwelt schrie unterdessen herum, rührte kein Essen an und warf die Teller umher. Oder sie saß neben Hades und sehnte sich zurück zum Licht der Sonne und ihren Freundinnen. Nur einmal biss sie in einen Granatapfel und schluckte sieben Kerne.

Als Hades sah, wie unglücklich Persephone war und dass sie ihn nie lieben würde, war er endlich bereit, sie gehen zu lassen. „Du darfst zurück zu deiner Mutter“, sagte er zu ihr. „Aber du darfst nichts mitnehmen, was zur Unterwelt gehört.“ Wenn Menschen sterben, lassen sie alles zurück, was sie im Leben besessen haben. Und wenn einer, was ganz selten ist, noch einmal ins Leben zurückkehren darf, gilt das gleiche Gesetz.

Kaum hatte Hades das gesagt, da sah er, dass Persephone ein Drittel des Granatapfels geschluckt hatte. Was war zu tun? Hades fragte die Götter. Doch auch die wussten zunächst keinen Rat. Schließlich machte eine Göttin der Versammlung einen Vorschlag: „Persephone soll auf die Erde zurückkehren. Doch was sie geschluckt hat, kann sie nicht wieder hergeben. Deshalb darf sie nur acht Monate im Jahr auf der Erde leben. Danach muss sie für vier Monate lang in der Unterwelt zurückkehren.“

So wurde es beschlossen. Persephone kehrte zu Demeter zurück. Auf der Erde brach der Frühling an. Die Pflanzen wuchsen und blühten. Im Herbst aber nahte sich Persephones Abschied. Sie musste in die Unterwelt zurückkehren. Da wurde Demeters Herz wieder kalt. Die Pflanzen hörten auf zu wachsen und warteten auf die Zeit ihrer Rückkehr.

Diese Geschichte erzählten sich die Menschen im alten Griechenland. Sie erklärte ihnen, warum sie im Winter froren, und half ihnen, sich auf das Frühjahr zu freuen. Wenn Menschen verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie sind, können sie sie besser aushalten.

Szenenwechsel:
Wir sind in Jerusalem, über 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Ein Priester streift durch Jerusalem, besser durch das, was von der schönen Stadt noch übrig ist. Die Haustüren sind aufgebrochen, die Gärten vertrocknet, die Felder verwüstet. Die Olivenbäume sind umgehauen, der Tempel ist eine Ruine. Das waren die Soldaten aus Babylon, weiß der Priester. Sie haben alles zerstört und viele Menschen und Tiere getötet. Wer nach dem Krieg am Leben geblieben ist, den haben sie mitgenommen. Sie sitzen jetzt im Land Babylon. Sicher weinen sie und fragen sich, ob Gott zu schwach war, um das alles zu verhindern.

Wenige Menschen leben noch in der Stadt. Auch sie sind unglücklich. „Wann ist die Not denn zu Ende?“, fragen sie den Priester. „Wann wird wieder alles grün werden und blühen? Wann können wir unsere Häuser aufbauen, wieder unsere Gärten wässern? Wann sehen wir unsere Nachbarn, Freunde und Familien wieder? Priester, nichts ist mehr in Ordnung. Alles ist zerstört und durcheinander. Was meinst du, Priester, hat uns Gott verlassen?“

Der Priester überlegt: Wie kann er die Menschen trösten? Ich möchte ihnen Mut machen und Hoffnung geben. Er überlegt. Um zu verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie sind, ist es gut, sich an die Anfänge zu erinnern. Er setzt sich und schreibt einen Satz:

„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“

Das ist die Überschrift, der wichtigster Satz. Beim Schreiben hat er Jerusalem vor Augen. Und er denkt: Ich will, dass die Menschen nicht zweifeln, dass sie nicht verzweifeln. Er schreibt weiter – für die, die noch in Jerusalem leben und ohne Hoffnung sind. Für die, die weggeführt sind und Zweifel haben, ob sie je zurückkehren können. Er schreibt ein Lied vom Anfang.

Die Erde war wüst und leer“, so schreibt er weiter. „Und die Finsternis lag auf der Tiefe. Und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war…“

So beginnt die Geschichte des Priesters. Ob sie die Menschen trösten wird?

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