Horst Heller (CC BY)
Dieser Blogbeitrag als PDF
Ich erinnere mich noch gut an einen Nachmittagskaffee im Haus meiner Eltern. Zum Geburtstag meines Vaters vor über 30 Jahren war ich mit meiner jungen Familie angereist. Ebenfalls eingeladen waren Freunde, etwas älter als meine Eltern, deren Kinder kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs geboren waren. Vom Beginn des Kaffeeplauschs ist mir nichts in Erinnerung geblieben. Aber dann wandte sich das Gespräch der Frage zu, in welcher Weise junge Eltern mit ihren schreienden Säuglingen umgehen sollten. Als junger Vater hörte ich mit Interesse, was die Freundin meiner Eltern erzählte: „Wenn die Zeit zum Stillen noch nicht gekommen war“, so erinnerte sie sich,“ „mussten wir uns als Eltern gegenseitig zu Konsequenz ermahnen. Dem spontanen Verlangen, unser weinendes Baby aufzunehmen, zu trösten, zu stillen und in den Schlaf zu singen, durften wir nicht nachgeben.“ Sie schüttelte beim Erzählen immer wieder den Kopf. Sie war inzwischen mehrfache Großmutter und empfand diese „Erziehung“ rückblickend als unsinnig und schädlich. „Wir litten sehr unter diesen Regeln, aber wir waren belehrt worden, hart zu unserem Kind und zu uns selbst zu sein.“
Wie konnten Menschen dazu gebracht werden, mit den Bedürfnissen eines weinenden Säuglings kontraintuitiv umzugehen?

Hier muss der Name der böhmisch-deutschen Ärztin und Publizistin Johanna Haarer genannt werden, deren Veröffentlichungen jahrzehntelang zu den gefragtesten Schwangerschafts- und Erziehungsratgebern zählten. Sie wurde 1900 in Děčín, damals Bodenbach im Sudetenland, unweit der sächsischen Grenze geboren. Sie studierte Medizin, und obwohl sie weder Pädiaterin noch Psychologin war, waren ihre Bücher Standardwerken in Ausbildungsstätten für Kinderkrankenschwestern und Erzieherinnen. Ihre bekannteste Publikation „Die Mutter und ihr erstes Kind“ erschien 1949 und wurde bis 1987 immer wieder neu aufgelegt. Es erreichte in dieser Zeit eine Auflage von 500.000 Exemplaren. Antiquarisch ist es bis heute erhältlich.
Was die Freundin meiner Eltern und ihr Mann sich und ihren Kindern abverlangt hatten, war nichts anderes als die Umsetzung der Ratschläge Haarders.
Das gesunde neugeborene Kind sollte, so die Lungenfachärztin, sobald es abgenabelt und versorgt worden sei, „zur Seite gelegt werden“ (zitiert nach Chamberlain, S. 22). Mutter und Kind sollten die ersten Tage getrennt sein. 24 Stunden nach der Geburt durfte ihr das Baby erstmalig zum Stillen zugeführt werden. Körperliche Nähe Fremder war unerwünscht, denn sie könnten Krankheiten übertragen.
Das schreiende Kind durfte nicht herumgetragen werden. Den Müttern wurde geraten, sich beim Baden des Kindes zu beeilen und auch beim Wickeln nicht zu „trödeln“ (ebd. S. 26). „Das Kind wird gefüttert, gebadet und trockengelegt, im Übrigen aber vollkommen in Ruhe gelassen“ (ebd. S. 26). Mit Zärtlichkeit sollte sie sparsam umgehen. Waren ihr beim Zubereiten der Nahrung und bei der Körperpflege keine Fehler unterlaufen, sollte sie das Weinen des Kindes ignorieren. „Schon nach wenigen Nächten, vielfach schon nach der ersten, hat das Kind begriffen, dass sein Schreien ihm nichts nützt und ist still“ (ebd. S. 27). Schwer zu sagen, wem durch diese Erziehungsratschläge die größere Pein bereitet wurde: dem Kind oder seiner Mutter bzw. seinen Eltern.
Eltern wurden angeleitet, ihren eigenen Schmerz und den ihres Kindes konsequent zu überhören.
Weinen ist eine der wenigen Möglichkeiten eines Säuglings, Unbehagen, Hunger oder Müdigkeit auszudrücken. Welche Pädagogik verbirgt sich hinter dem Ratschlag, Bedürfnisäußerungen eines Kleinkindes konsequent zu ignorieren? Welches Menschenbild erklärte das Schreien eines Kleinkindes zum subversiven Angriff auf die Autonomie der Erwachsenen und die häusliche Ordnung? Es gibt dafür nur eine Erklärung: Das neugeborene Kind sollte vom ersten Tag seines Lebens an spüren, dass seine vitalen Bedürfnisse nicht das Handeln der Mutter beeinflussen konnten. Es sollte sich resigniert in sein Schicksal fügen und lernen, das Unvermeidliche hinzunehmen. Das Verlangen nach individueller Bedürfnisbefriedigung war verwerflich und sollte kurzerhand und kalten Herzens abtrainiert werden.

Spätestens jetzt wird deutlich, auf welchem ideologischen Boden Haarers Ratschläge wurzelten. Sie sind von einer Frau verfasst worden, die seit 1937 Mitglied der NSDAP und nach Aussage ihrer Tochter bis zu ihrem Tod 1988 überzeugte Nationalsozialistin war. Ihr Buch wurde nicht erst nach dem Krieg ein Bestseller, sondern war es schon vorher. 1934 bei J. F. Lehmanns in München erschienen und von nationalsozialistischen Gruppierungen intensiv beworben, erreichte es in der Zeit der Diktatur eine Auflage von fast 700.000 Exemplaren. Zehn Jahre lang war es ein wichtiges Puzzlestück der nationalsozialistischen Ideologie, die die Mutterschaft verklärte und in den deutschen Kindern Vertreter einer überlegenen Rasse sah, die kämpfen und siegen sollten.
Als Autorin ist Haarer auch für ein „Kinderbuch zum Vorlesen und Selbstlesen“ mit dem Titel „Mutter, erzähl von Adolf Hitler!“ verantwortlich, das 1939 im gleichen Verlag erschien. Diese Publikation, randvoll mit antisemitischer Hetze, war unsägliches Propagandagift in Buchform. Der Tyrann, der Millionen Unschuldige für einen verbrecherischen Krieg opferte, wurde zum verehrten Führer. In Haarers Ratgebern kleidete er sich mit dem Kittel des Kinderarztes und der Haube der Säuglingsschwester und belehrte die Mütter, dass ihr hilfloses Neugeborenes unversehens zum Tyrannen werden könne, wenn sie es nicht auf Distanz hielten. Welche Verkehrung der Maßstäbe!
Empathie und Mitleid durften keinen Platz in der Erziehung bekommen. Der Krieg und die Partei brauchten Mitläufer und Soldaten, die die eigenen Bedürfnisse nicht mehr wahrnahmen und Zweifel für Wehleidigkeit hielten. Selbstwirksamkeit, Zugehörigkeit und Wertschätzung sollten sie nur als geknickte Persönlichkeiten und Mitglieder einer Volksgemeinschaft erleben, die ihrem Führer folgte.
Mit dem Untergang des Nationalsozialismus verschwand die Pädagogik des „Dritten Reiches“ leider nicht.
Nach dem Ende der Gewaltherrschaft verlor Haarer ihre Approbation als Ärztin. Damit ihr Buch weiterhin verkauft werden konnte, wurde es von den gröbsten nationalsozialistischen Inhalten gereinigt und vom Münchner Verlag Gerber neu verlegt. Dabei verschwand das Wort „deutsche“ aus dem Titel. Aus „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ wurde „Die Mutter und ihr erstes Kind“. So endete 1945 die Herrschaft der NSDAP, aber ihre Pädagogik sorgte weiterhin für Tränen und Einsamkeit in deutschen Kinderzimmern.
Hitler mischte sich bis weit in die 1980er Jahre unheilvoll in die Erziehung von Kindern ein.
Die zum Teil traumatisierten „Kriegskinder“ rezipierten in großer Zahl Haarers Ratgeber und waren als Eltern bereit, ebenfalls ihre Intuition Kindern gegenüber zu unterdrücken. So reproduzierten sie ihre Gefühllosigkeit und ihre Bindungsarmut in der nächsten Generation und forderten von ihren Kinder, eigenes Leid zu bagatellisieren. „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ Sogenannte „Kriegsenkel“ suchen nun nach Antworten. Bei der Aufarbeitung von Depressionen, Burn-Out oder Beziehungsproblemen stoßen sie nicht selten auch auf das unselige Erbe der Lungenfachärztin. Die willfährige Umsetzung ihrer Ratschläge hat Narben hinterlassen. Die Auseinandersetzung mit den Narrativen der eigenen Kindheit ermöglicht aber Heilung.
Karl May irrte: Auch Indianer empfinden Schmerzen.
Links und Literatur:
Sigrid Chamberlain, Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher, Gießen, 6/2016
Matthias Lohre, Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht.
Kurzbiografie Johanna Haarer: www.ilexikon.com/Johanna_Haarer.html
Manfred Berger, Frauen in der Geschichte des Kindergartens: Johanna Haarer https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/geschichte-der-kinderbetreuung/manfred-berger-frauen-in-der-geschichte-des-kindergartens/1268
Manfred Berger, Johanna Haarer – Biografie und ihre drei zugkräftigsten Erziehungsratgeber im Wandel der Zeiten. https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/geschichte-der-kinderbetreuung/weitere-historische-beitraege/johanna-haarer-1900-1988
Jan Feddersen, Ungemütlicher Tag, TAZ, 07.05.2005, https://taz.de/!612317
Anne Kratzer, Warum Hitler bis heute die Erziehung von Kindern beeinflusst. https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2018-07/ns-geschichte-mutter-kind-beziehung-kindererziehung-nazizeit-adolf-hitler
Wikipedia, Johanna Haarer: https://de.wikipedia.org/wiki/Johanna_Haarer
Wikipedia, Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_deutsche_Mutter_und_ihr_erstes_Kind
Blogbeiträge zum Thema auf www.horstheller.de
25.01.2020: Den Verfolgten Gesichter zuordnen und die stillen Helden ehren. Eine Erinnerung an vier stille Helden und ihre Verdienste
09.02.2020: Die Nagelbilder im Andachtsraum des Deutschen Bundestags haben eine deutlich sichtbare Kreuzform. Gibt es Abgeordnete, denen das nicht fromm genug ist?
05.04.2020: Warum wir Dietrich Bonhoeffer nicht den Rechten überlassen dürfen
19.07.2020: „Für oder gegen den Führer?“ Ein Augenzeuge erzählt aus den Julitagen des Jahres 1944 in Berlin.
06.09.2020: Digitalität und religiöse Bildung – Aspekte einer digitalen Religionsdidaktik
28.03.2021: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ Ein unsäglicher Erziehungratgeber lehrte Eltern, ihrer Intuition zu misstrauen und ist für unzählige Tränen verantwortlich.
04.04.2021: Vater und Sohn. Wie Erich Ohser der Diktatur listig die Stirn bot und den Kampf dennoch tragisch verlor
18.04.2021: „Ich glaube nicht an Wunder, aber mir sind schon einige widerfahren. Ein Plädoyer für eine aufmerksame Spurensuche
09.05.2021: „Von Politik verstehe ich nicht viel. Sophie Scholl zeigt, dass auch ein vermeintlich unpolitischer Mensche in der Lage ist für das Recht einzutreten.
14.11.2021: Am Volkstrauertag denke ich an Hugo. Er starb nicht für Deutschland. Er starb.
21.11.2021: 90 Jahre Pünktchen und Anton. Wie ein kleines Mädchen dem Lehrer ihres Freundes hilft, sein pädagogisches Koordinatensystem neu auszurichten
20.03.2022: Goethes Eiche in Buchenwald. Wie in Weimar Erhabenes und Abgründiges zusammen eine Geschichte erzählen