Mein Cantus Firmus im Dezember. Zwölf Fragen an Johann Sebastians Bachs Weihnachtsoratorium

Horst Heller

Es gehört für mich zur Adventszeit wie der Christbaum zum Weihnachtsfest. Der Chorus „Jauchzet, frohlocket!“, die Arie „Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben“ und die wunderschönen Choräle sind auch mein Cantus Firmus im Dezember. Ich habe nicht vergessen, dass im Jahr 2020 Aufführungen von Bachs Meisterwerk untersagt waren. In diesem Jahr erklingen die Arien, Rezitative und Choräle wieder. Ein Anlass, dem Weihnachtsoratorium einige Fragen zu stellen.

„Jauchzet, frohlocket!“ aus: Johann Sebastian Bach, Weihnachtsoratorium, Kantate 1
La Petite Bande, Sigiswand Kuijken

1. Welche der sechs Kantaten des Weihnachtsoratoriums hat Bach für den Advent komponiert?
Keine. Es war der Wille des Komponisten, dass der Reigen der Aufführungen nicht vor dem 1. Weihnachtsfeiertag beginnen sollte.

Die ersten zwei Kantaten hatte Bach für die Gestaltung der Gottesdienste an den beiden Weihnachtsfeiertagen komponiert. Kantate 3 wurde am 27. Dezember, dem Tag des Apostels Johannes, aufgeführt. Die vierte Kantate, die die Namensgebung Jesu besingt, sollte am Neujahrstag musiziert werden. Die letzten beiden Kantaten schließlich waren für den 2. Januar und den Dreikönigstag, den 6. Januar, vorgesehen.

2. Gibt es einen roten Faden durch alle sechs Kantaten?
Obwohl es also zu Bachs Zeiten nicht üblich war, das Oratorium an einem Abend aufzuführen, handelt es sich doch um ein Gesamtwerk, das durch die Weihnachtsgeschichten des Lukas- und des Matthäusevangeliums gegliedert ist.

3. „Lasset das Zagen!“ Ist das Weihnachtsoratorium für die Jahre der Pandemie und der politischen Desillusionierung komponiert worden?
Fast könnte man es denken. Die Aufforderung, das Klagen einzustellen und nicht zu verzagen, berührt die Menschen bis heute Vielleicht erfreut sich Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium deshalb noch heute uneingeschränkter Popularität. Es ist das beliebteste aller geistlichen Vokalwerke des großen Thomaskantors.

4. Welche Geschichte wird in Kantate 1 erzählt?
Es ist die Geschichte der Geburt Jesu, so wie sie im Lukasevangelium überliefert ist:

Damals gab es keinen Frieden. Der Kaiser hieß Augustus. Er beherrschte fast alle Länder. Seine Soldaten hatten das Land erobert. Was ihnen nicht gefiel, war verboten. Die Bauern, die Hirten, die Fischer, die Handwerker, die Frauen und die Kinder beteten zu Gott, dass er ihnen bald einen Retter schickt.
Eines Tages hörten sie, dass der Kaiser einen Befehl erlassen hatte. „Jeder Untertan muss in seinen Heimatort gehen. Dort muss er sich in eine Liste eintragen lassen. Ich will wissen, wie viele Untertanen in meinem Reich wohnen. Und wie viel Geld sie mir zahlen können.“
Auch der Zimmermann Josef machte sich auf den Weg in seine Heimatstadt Bethlehem. Von Nazareth aus war das eine weite Reise. Zusammen mit ihm reiste Maria, seine junge Frau. Die war schwanger. Als sie in Bethlehem eintrafen, fanden sie die Herberge des Ortes, aber alle Zimmer waren belegt. So mussten Josef und Maria bei den Tieren schlafen, neben den Eseln und Ochsen, die ebenfalls in der Herberge waren.
In der Nacht gebar Maria ihr erstes Kind. Es war ein Junge. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten keinen anderen Platz in der Herberge.

„Es begab sich aber …“ aus: Johann Sebastian Bach, Weihnachtsoratorium, Kantate 1
La Petite Bande, Sigiswand Kuijken

5. Warum wird das Weihnachtslied „Wie soll ich dich empfangen“ nach der Melodie eines Karfreitagslieds gesungen?
Das Adventslied des lutherischen Pfarrers Paul Gerhard erklingt tatsächlich nach der Melodie von „O Haupt voll Blut und Wunden.“ Dies ist keine musikalische Entscheidung, sondern hat einen theologischen Grund: Das Kind in der Krippe ist der gleiche Menschen, der wenige Jahrzehnte später am Kreuz stirbt. Seine Geburt in Niedrigkeit und sein Tod am Kreuz gehören zusammen.

Wie soll ich dich empfangen?“ aus: Johann Sebastian Bach, Weihnachtsoratorium, Kantate 1
La Petite Bande, Sigiswand
Kuijken

Wie soll ich dich empfangen / und wie begegn´ich dir?
O aller Welt Verlangen, / o meiner Seelen Zier!
O Jesu, Jesu, setze / mir selbst die Fackel bei,
damit, was dich ergötze, / mir kund und wissend sei.

6. Kann ein Hirtengesang schöner sein?
Definitiv nein. Der einzige rein orchestrale Satz des gesamten Oratoriums wiegt sich im 6/8 Rhythmus. Er eröffnet die 2. Kantate des Oratoriums und erzeugt idyllische Hirtenromantik. Die Kantate erzählt sodann von der nächtlichen Vision der Hirten, die die Botschaft der Engel hören. Der Bote Gottes fordert sie auf, unverzüglich in die Stadt Davids zu eilen und nachzuprüfen, ob es stimmt, was der Engel gesagt hat. Die Stadt Davids, das ist Bethlehem, der Ort, vor dessen Toren sie sich in der Nacht aufhalten. So brechen sie auf und finden das Kind in der Krippe. Alles ist so, wie es der Engel gesagt hat.
Die „Sinfonia“ idealisiert die Lebensweise der Hirten, die in der freien Natur leben und dort auch übernachten. Bach gelingt das durch den vermehrten Einsatz der Oboen. Trompeten und Pauken müssen in der gesamten Kantate schweigen.
Hirte zu sein, war allerdings keinesfalls eine idyllische Tätigkeit. Sie lebten im Freien und galten als armseliger und – da ihnen die Schafe, die sich hüteten, nicht gehörten – auch als unehrlicher Berufsstand. Auch in der Weihnachtsgeschichte lassen sie ja die Schafe unbeaufsichtigt zurück. Doch dass die Engel gerade ihnen die frohe Botschaft mitteilen und die jungen Eltern von den armen und verachteten Hirten Besuch erhalten und von ihnen erfahren, was für ein Kind Maria da zur Welt gebracht hat, ist ein Bild für die Theologie, die der Evangelist erzählerisch entfaltet: Dass Jesus geboren ist, ist eine gute Botschaft vor allem für die Armen.

Sinfonia, aus: Johann Sebastian Bach, Weihnachtsoratorium, Kantate 2
La Petite Bande, Sigiswand Kuijken

7. Welche Geschichte wird in der 3. Kantate besungen?
Die Kantate erzählt von der Ankunft der Hirten in der Herberge:

Draußen vor dem Ort hüteten Hirten ihre Herden. Es war Nacht. Doch plötzlich war es so hell wie am Mittag. Und die Hirten hörten die Stimme eines Engels. Sie erschraken. Aber der Engel sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Ich habe eine gute Nachricht für euch. Euch ist heute der Retter geboren. Geht nach Bethlehem, dort werdet ihr ihn finden. Und so werdet ihr ihn erkennen: Er ist ein Kind, in Windeln gewickelt. Es liegt in einer Krippe.“Plötzlich waren da ganz viele Engel. Und die Hirten hörten sie singen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden und bei den Menschen.“
Dann waren die Engel verschwunden. Die Hirten sahen sich an. „Was hat das zu bedeuten?“, fragten sie sich. „Lasst uns schnell nach Bethlehem laufen und selbst sehen, was dort geschehen ist.“ Sie brachen sofort auf und fanden alles so, wie es der Engel gesagt hatte: Maria, Josef und das Kind in der Krippe. Da erzählten sie, was der Engel über das Kind erzählt hatte: „Ich habe eine gute Nachricht für euch‘, hat der Engel zu uns gesagt. ,Euch ist heute der Retter geboren.‘“

Die Weihnachtserzählung des Lukasevangeliums schließt mit einem wunderbaren Satz, der auch die Leserinnen und Leser auffordern will, über die Worte der Engel und die der Hirten nachzudenken.

Josef und Maria hörten zu. Maria aber merkte sich diese Worte und dachte lang über sie nach.

Diese Anregung setzt Johann Sebastian Bach musikalisch um. Das Rezitativ nimmt die Perspektive Marias ein. Sie denkt über die Worte der Hirten nach. Angeregt von ihr antwortet die glaubende Gemeinde mit einem Choral.

„Ich will dich mit Fleiß bewahren“, aus: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, Kantate 3
La Petite Bande, Sigiswand Kuijk
en

Rezitativ: Ja, ja, mein Herz soll es bewahren, / was es an dieser holden Zeit
zu seiner Seligkeit für sicheren Beweis erfahren.
Choral: Ich will dich mit Fleiß bewahren, / ich will dir / leben hier, / dir will ich abfahren,
mit dir will ich endlich schweben / Voller Freud / ohne Zeit / dort im andern Leben.

8. Kann es sein, dass sich eine der Kantaten nur mit einem einzigen Bibelvers beschäftigt?
Ja, die vierte Kantate. Nach alttestamentlicher Vorschrift werden die männlichen Neugeborenen am 8. Tag nach ihrer Geburt beschnitten. Dies geschah und geschieht in Erinnerung an Abraham und den Bund, den Gott mit ihm geschlossen hatte. Das Kind erhielt an diesem Tag seinen Namen. Der Neujahrstag, genau eine Woche nach dem Weihnachtsfest ist deshalb in katholischer Tradition auch der Tag „der Beschneidung des Herrn.“ Dieser Brauch ist Inhalt der 4. Kantate, die deshalb auch am Neujahrstag des Jahres 1735 uraufgeführt wurde.

Es war vorgeschrieben, dass die Eltern acht Tage nach der Geburt ihr Kind im Tempel dem Priester zeigen mussten. Und so taten es Josef und Maria. Ein neugeborener Junge wurde beschnitten, wie es seit den Tagen Abrahams geschieht. Das Kind wurde Jesus genannt. Das war der Name, den der Engel Maria genannt hatte, als er sie besucht hatte.

Der Name Jesus hat eine Bedeutung. Seine Übersetzung ins Deutsche lautet „Gott, der Herr, rettet.“ Musikalisch hat Bach diese Namensgebungskantate, in der nur ein einziger Bibelvers rezitiert wird, wunderbar gestaltet. Auf den Sopran antwortet ein Echo-Sopran, auf die ihn begleitende Oboe antwortet eine zweite Echo-Oboe. Es ist eine der schönsten Arien des gesamten Oratoriums.

„Flößt, mein Heiland, …“ aus: Johann Sebastian Bach, Weihnachtsoratorium, Kantate 2
La Petite Bande, Sigiswand Kuijken

Flößt, mein Heiland, flößt dein Namen / auch den allerkleinsten Samen
jenes strengen Schreckens ein?

Nein, du sagst ja selber nein. (Nein!)
Sollt ich nun das Sterben scheuen?
Nein, dein süßes Wort ist da! / Oder sollt ich mich erfreuen?
Ja, du Heiland sprichst selbst ja. (Ja!)

9. War Bach ein Provokateur?
Nein. Und doch ja. Bach stammte aus einer Musikerfamilie. Er war zweimal verheiratet und hatte zehn Kinder. Seine Söhne, soweit sie das Erwachsenenalter erreichten, wurden allesamt Musiker wie der Vater. Einige übertrafen den Ruhm, den ihr Vater zu Lebzeiten hatte. Über seine Töchter ist leider nur sehr wenig bekannt.
Er arbeitete in mehreren Anstellungen, am längsten als Thomaskantor in Leipzig. Sein ganzes Leben lang betrat er aus Gewissensgründen keine katholische Kirche. Auch darin war er ein treuer Diener seiner Herren. Ein Provokateur war er nicht. Aber er konnte Provokatives an der Botschaft der Bibel entdecken und genial in Noten umsetzen.

„Brich an, o schönes Morgenlicht! aus: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, Kantate 2
La Petite Bande, Sigiswand Kuijken

Brich an, o schönes Morgenlicht, / und lass den Himmel tagen!
Du Hirtenvolk, erschrecke nicht, / weil dir die Engel sagen,
dass dieses schwache Knäbelein / soll unser Trost und Freude sein,
Dazu den Satan zwingen / und letztlich Friede bringen!

Dieser Choral fasst den Kern des Weihnachtsoratoriums in wenigen Zeilen zusammen. Das Kind, das da auf die Welt kommt, wird ein König genannt. Doch welch ein König ist das!? Er kommt nicht in einem Palast zur Welt. Er schläft nicht in einem Himmelbett, er trägt keine teure Kleidung. Das Pferd wird nicht sein Reittier sein, sondern er zieht auf einem Esel in die Stadt Jerusalem ein. Insignien der Macht lehnt er ab.

Den Mächtigen seiner Zeit gelingt nur ein Frieden durch Unterdrückung. „Letztlich Frieden“ zu bringen ist dem vorhalten, der am Weihnachtstag – ohne jeden Wohlstand – geboren wird. Zwar ist sein Frieden, den Bachs Choral ersehnt, noch immer nicht eingekehrt, aber das Kind in der Krippe hat in der Tat die Welt mehr verändert, als Kaiser Augustus und König Herodes es je gelungen ist. Die Mächtigen müssen also damit rechnen, dass ihre Tage gezählt sind. Ob die Fürsten und Stadträte, denen Bach diente, diese Dimension des Weihnachtsoratoriums wahrgenommen haben?

10. Welche Geschichte liegt den Kantaten 5 und 6 zugrunde?
Die letzten beiden Kantaten greifen die Weihnachtsgeschichte des Matthäusevangeliums auf. Sie erzählen von der Ankunft der Sterndeuter in Jerusalem, wo sie nach dem neugeborenen König der Juden fragen, und von der Rettung des Kindes vor Herodes, der ihm nach dem Leben trachtet. Es ist die Erzählung einer Königssuche und handelt von Verehrung, von Forschergeist, von Angst, Erschrecken und Lügen.

Sterndeuter kamen nach Jerusalem und traten dort vor den König. Sie sagten: „Wir haben einen neuen Stern am Himmel entdeckt. Wenn ein Stern entsteht, dann ist ein neuer König geboren. Wir sind zu dir gekommen, um ihm Geschenke zu bringen. Wo finden wir ihn?“
Als König Herodes das hörte, erschrak er. „Ein neugeborener König? Hier in meinem Land? Er wird mich vom Thron stoßen!“  Er rief gelehrte Menschen zu sich und fragte sie: „Steht in den heiligen Büchern etwas über einen König, der in meinem Land geboren wird?“ Die Gelehrten antworteten: „Der Prophet Micha hat geschrieben: Aus Betlehem wird der König kommen. Sein Königreich wird kein Ende haben.“ Da sagte Herodes zu den Sterndeutern: „Das Kind ist in Betlehem auf die Welt gekommen. Geht dort hin und sucht es! Und wenn ihr es gefunden habt, dann kommt zurück und sagt es mir. Auch ich möchte ihm Geschenke machen.“ In Wahrheit aber hatte er Böses im Sinn. Die Sterndeuter brachen auf und der Stern zeigte ihnen den Weg. Sie fanden das Haus, in dem das Kind war. Sie gingen hinein und fanden das Kind mit seiner Mutter Maria. Sie warfen sich vor ihm auf den Boden und beteten es an. Sie breiteten ihre Geschenke vor ihm aus: Gold, Weihrauch und Myrrhe.

11. War Herodes wirklich ein Unmensch?
In der Bibel hat Herodes kein gutes Image. Er gilt als grausam, weil von ihm erzählt wird, dass er die unschuldigen Kinder in Bethlehem habe töten lassen.In der Tat war Herodes zwar ein kluger und weitsichtiger, allerdings auch grausamer Herrscher, dem es immer wieder gelang, durch geschickte Winkelzüge und politischen Frontenwechsel seine Herrschaft jahrzehntelang zu bewahren. Auch als Bauherr und Stratege war er genial. Seine langjährige Herrschaft war aber auch geprägt von einer panischen Angst vor Anschlägen und von Unerbittlichkeit gegenüber Konkurrenten. Selbst seine eigenen Kinder waren nicht sicher vor ihm, wenn er befürchte, dass sie nach seinem Thron trachteten. Der Mord an den unschuldigen Kindern von Bethlehem, würde, auch wenn es keine historischen Belege für diese Untat gibt, durchaus zu ihm passen. Bach nutzte die Gestalt des antiken Herrschers als Metapher für alle Feinde des Guten, die am Ende aber nicht die Oberhand behalten können.

„Du Falscher, suche nur den Herrn zu fällen.“ aus: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, Kantate 6
La Petite Bande, Sigiswand Kuijken

Du Falscher, suche nur den Herrn zu fällen,
Nimm alle falsche List, / dem Heiland nachzustellen;
Der, dessen Kraft kein Mensch ermisst, / bleibt doch in sichrer Hand.
Dein Herz, dein falsches Herz ist schon, / nebst aller seiner List, des Höchsten Sohn,
Den du zu stürzen suchst, sehr wohl bekannt.

So nimmt die Geschichte ein gutes Ende: Sowohl die nichts ahnenden Sterndeuter als auch die junge Familie werden von einem Engel Gottes gewarnt:

In der Nacht hatten die Sterndeuter einen Traum. Eine Stimme sprach zu ihnen: „Geht nicht zu Herodes zurück!“ Da reisten sie auf einem anderen Weg in ihre Heimat zurück. Zur gleichen Zeit hatte auch Josef einen Traum. Er hörte einen Engel, der sprach zu ihm: „Geht nach Ägypten und bleibt dort, bis ich es dir sage, du, Maria und das Kind!“ Noch in der gleichen Nacht stand er auf. Zusammen reisten sie nach Ägypten. Dann starb König Herodes. So kehrte die Familie nach Hause zurück.

12. Gehört das Weihnachtsoratorium in den Konzertsaal oder in die Kirche?
Schwierige Frage! Uraufgeführt wurden die Kantaten in der Weihnachtszeit des Jahres 1734 in der Leipziger Thomaskirche. Es musizierten Solistinnen und Solisten, ein kleiner Chor und ein Kammerorchester in der Leipziger Thomaskirche. Der Komponist leitete die Aufführungen von der Orgel aus.

Höhepunkt der letzten Kantate ist das Weihnachtslied des lutherischen Pfarrers Paul Gerhard „Ich steh‘ an deiner Krippen hier.“ Es wurde 1653 veröffentlicht. Die oder der Singende identifiziert sich mit einem der Besucher an der Krippe, der wie die Hirten staunend erkennt, wie Gott den Menschen kommt. Das lyrische Ich möchte es gerne den Sterndeutern gleichtun und Geschenke überreichen. Doch ganz im Sinne barocker Mystik überreicht der Gläubige nicht teure materielle Geschenke, sondern „Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut.“ Er übereignet dem Kind in der Krippe sein ganzes Leben und bittet bescheiden: „Und lass dir’s wohl gefallen!“

„Ich steh‘ an deiner Krippen hier“, aus: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, Kantate 6
La Petite Bande, Sigiswand Kuijken

Bach verwendete für diesen Choral nicht die heute populäre Melodie aus dem 18. Jahrhundert, sondern komponierte den Choral nach der Musik, die von niemand Geringerem als Martin Luther geschaffen worden war.
So gesehen gehört das Weihnachtsoratorium eigentlich in eine Kirche. In einer unübertroffenen Weise hat Bach die Theologie des Weihnachtsfestes und seine Kompositionskunst aufeinander bezogen. Sein Oratorium ist – auch wenn es konzertant aufgeführt wird – eine klingende Predigt. Aber es ist anders als eine komponierte Messe nicht darauf angewiesen, dass es im Rahmen eines Gottesdienstes aufgeführt wird. Als geistliche Musik will es keinem Zweck dienen, aber erbauen und Glauben in ästhetische Formen gießen. Das ist Johann Sebastian Bach vielleicht wie keinem Zweiten gelungen. Völlig zu Recht wurde und wird er deshalb auch der Fünfte Evangelist genannt.

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