
Mehr Austritte, weniger Taufen, weniger Mitglieder, weniger Einnahmen. Das sind die kirchlichen Schlagzeilen dieses Sommers. Die Evangelischen werden weniger. Dieser Trend ist nicht neu, aber er hat sich in jüngster Zeit verstärkt und in der Pandemie einen Katalysator gefunden. Noch haben die 20 evangelischen Landeskirchen in Deutschland die Möglichkeit, ihre Struktur und ihr Erscheinungsbild zu gestalten. Sie können und müssen diesen Prozess selbst angehen. Kein Lehramt des Vatikans und keine Bischofssynode in Rom wird ihnen dafür Vorgaben machen.
Vor drei Jahren hat ein Z-Team (Z steht für Zukunft) im Auftrag der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) den Auftrag angenommen, Visionen und Perspektiven für die evangelische Kirche zu entwerfen. Das Ergebnis liegt nun in Form von elf Leitsätzen vor. Sie beschreiben die Herausforderungen mit Klarheit und Präzision, weichen kritischen Folgerungen nicht aus, bleiben aber an einigen Stellen vage und lassen wenigstens einen wichtigen Aspekt außer Acht. Auf ihrer Webseite hat die EKD aufgefordert, die Leitsätze zu diskutieren und zu kommentieren. Dieser Blogbeitrag kommt dieser Bitte nach und will ein Gesprächsbeitrag sein.
Evangelische Kirche in Deutschland, Elf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche (2020)
Zehn Kommentare
1. Die Krise ist da. Wir sollten die Situation nicht länger schönreden.
2. Wir müssen endlich das Potential der Ökumene nutzen.
3. Warum wir uns von dem Wort Mission verabschieden sollten

4. Kirchengemeinden, Pfarreien und alternative Formen der Beteiligung
Es gilt, „die Liebe zum Gottesdienst in neuen und vielfältigen … Formen wachzuhalten (S. 6, Z. 243 f.)“. Mit dem Wort „wachhalten“ ist den Autoren des Papiers eine selbstkritisch-humorvolle Einsicht gelungen. Tatsächlich muss die Liebe zum Gottesdienst vielerorts wachgehalten, vielleicht sogar neu geweckt werden. Denn die Gottesdienste am Sonntag, die kirchlichen Segnungen zur Taufe, zur Trauung und zur Bestattung, noch immer die sichtbarsten Zeichen der Präsenz der Kirche in der Welt, sind in der Krise.
Erfreulicherweise erwähnt das Papier an dieser Stelle auch die neuen Formen der Kommunikation des Evangeliums. Kirchengemeinden haben längst auch digitale Angebote. Landeskirchen berufen Social Media Beauftragte. Der Ratsvorsitzende der EKD zeigt einmal wöchentlich in einer Videobotschaft sein Gesicht. Manchen Pfarrerinnen und -Pfarrern folgen mehr Menschen auf Instagram als ihre Kirchengemeinde Mitglieder hat. Die virtuellen Gemeinden (wenn man sie denn überhaupt so nennen kann) sind volatil, ihr Zugang ist niederschwellig. Ein Klick reicht aus, ihr beizutreten, ein Klick um sie wieder zu verlassen.
Die Kommunikation mit ihren Followern auf den Social Media Plattformen ist für die pastoralen Influencer zeitaufwändig und anstrengend. Sie erfordert aber vor allem eine Authentizität in einem bisher nicht gekannten Ausmaß. Die singularisierte Welt schätzt eben nicht das Standardisierte, sondern das Besondere, das Persönliche, das sich Unterscheidende. Wer nicht glaubwürdig Gefühle präsentieren kann, wird wenig Beachtung finden.
Horst Heller, Wer Erfolg haben will, muss herausstechen. Zu Andreas Reckwitz‘ Gesellschaft der Singularitäten – ein Blogbeitrag vom 12.11.2019 auf www.horstheller.de
Zurecht fordern die Leitsätze deshalb eine „Flexibilisierung und Individualisierung von Kasualien und christlicher Lebensbegleitung (S. 7, Z. 184 f.)“ als Konsequenz aus der Singularisierung unseres Lebens. Instagram ist sicher nicht die Zukunft der Kirche, aber das Medium zeigt beispielhaft, dass die Kirche lernen muss, im digitalen Raum überzeugender und medialer aufzutreten. Bislang diskutieren noch zu wenig kirchenleitende Personen bei Twitter. Es zeigen noch zu wenige Pfarrer ihr Gesicht in den Sozialen Medien. Es gibt nur wenige Bloggerinnen unter den Kirchenrätinnen. Evangelische Home Storys sind noch sehr selten.
Der Einwand, dass diese Formen kirchlicher Kommunikation nicht zum Wesenskern der Kirche passen würden, geht in die Irre. Wenn der parochiale Weg der Kirche ohne Alternativen wäre, dann bliebe das Evangelium eine Botschaft für eine analoge Welt, die die Herausforderungen der Singularisierung noch nicht begriffen hat. Die Zahl der Menschen, die sie so erreicht, würde weiter abnehmen. Während die Kirche in unzähligen Gremiensitzungen noch auf der Suche nach dem Weg aus der Krise ist, verändern sich längst die digitalen Landschaften. Experimentelle kirchliche Kommunikation und ihre Erprobung, Evaluation und Evolution sind allemal besser als Stillstand.
Die digitale Kirche ist längst Realität, doch die kirchlichen Strukturen sind analog. Bezirks-, Kreis- und Landessynoden bilden – mit wenigen Ausnahmen – noch die Realität der Parochien ab, auch wenn diese kaum überlebensfähig sind. In den solchermaßen zusammengesetzten Gremien werden Strukturentscheidungen getroffen. Hier wird über den Finanzrahmen entschieden, hier präsentieren sich Protagonistinnen und Protagonisten der Kirche, hier werden sie ihn höhere Ämter gewählt.
„Parochiale Strukturen werden ihre dominierende Stellung als Organisationsprinzip verlieren (S. 7, Z. 292 f.).“ Nur wenn die synodal-presbyteriale Struktur der Landeskirchen reformfähig ist, wird das LookUp, das Motto der EKD-Leitsätze, Realität werden. Die Reform, die der parochialen Struktur der Kirche eine Alternative zur Seite stellt, müsste aus dem Inneren der Synoden und Kirchenämter kommen. Die EKD-Leitsätze können sie nur anstoßen. Synoden und Konsistorien haben Aufgabe, den Wandel zu gestalten. Sie sind aufgefordert, ihre Entscheidungskompetenz zu nutzen.

5. Wer sich zur Kirche zugehörig fühlt
Schon heute lädt die Kirche Menschen zur Teilnahme und Mitwirkung ein, die ihr formal nicht angehören. Chöre, Reisegruppen und Gesprächsabende würden nicht zustande kommen oder ihr Ziel verfehlen, wären nicht alle unterschiedslos willkommen. „Die evangelische Kirche wird sich darauf einstellen müssen, dass offene Ablehnung, Gleichgültigkeit, aber auch Unkenntnis, Neugierde und eine vorsichtige Annäherung und Teilnahme ohne formelle Mitgliedschaft zunehmen (S. 7, Z. 309 ff.).“ Dass nicht alle Mitarbeitenden im Dienst der Kirchen ihr auch angehören müssen, ist gerichtlich bereits festgestellt worden. Aber auch innerhalb der Kirche hat ein Nachdenken begonnen. „Es bedarf jenseits der exklusiven Logik der Mitgliedschaft neuer organisatorischer Formen von Zugehörigkeit (S. 8, Z. 316 f.)“, mit dem Ziel, vielen Menschen eine Heimat in der Kirche anzubieten, auch wenn sie ihr aus welchen Gründen auch immer nicht beitreten wollen.
Neue hybride Formen von Mitgliedschaft müssen auch mit neuen Formen der Mitbestimmung, der Zusammensetzung von gemeindeleitenden Gremien verbunden sein. Amtshandlungen an Menschen ohne Zugehörigkeit zur Kirche dürfen kein Tabu bleiben.
Zwei Beispiele aus den Leitsätzen sind bereits öffentlich diskutiert worden:
– Der Vorschlag einer Absenkung der Kirchensteuer für junge Menschen wurde kritisch, aber auch ein wenig besserwisserisch kommentiert. Es wurde angemerkt, nicht die Kirchensteuer sei das Problem, sondern die Bindung an die Kirche. Das allerdings ist eine Binsenweisheit.
– Über die Idee einer ChurchCard, die kirchensteuerzahlenden Menschen Vorteile einräumt, darf zwar geschmunzelt werden. Aber auch in der Kirche könnte sich langjährige Treue lohnen. Das Problem bei all diesen Vorschlägen wird sein, dass es in den nächsten Jahren finanziell nichts mehr zu verteilen gibt. Rabatte, welcher Art auch immer, müssen im Haushalt abbildbar sein.
Horst Heller: LookUp statt LockDown – Die evangelische Kirche will sich erneuern. 10 Kommentar zu ihren 11 optimistischen Leitsätzen
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Elemente
25.08.2020:
1. Die Krise ist da. Wir sollten die Situation nicht länger schönreden.
2. Wir müssen endlich das Potential der Ökumene nutzen.
26.08.2020
3. Warum wir uns von dem Wort Mission verabschieden sollten
27.08.2020
4. Kirchengemeinden, Pfarreien und alternative Formen der Beteiligung
5. Wer sich zur Kirche zugehörig fühlt
28.08.2020
6. Kirchliche Bildungsarbeit: Schwachpunkt und verpasste Chance
29.08.2020
7. Klarheit, Wahrheit, Formelkompromisse und Blauäugigkeit. Das Papier hat weitere Stärken und Schwächen.
8. Die Aufgabenverteilung zwischen EKD und Landeskirchen
9. Weniger, aber das Wichtige tun
10. Ein Fazit und eine Hoffnung
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27.10.2019: Ecclesia semper reformanda. Ein Leitbild für die evangelische Kirche, das mir gefällt