Warum der Schöpfergott nicht mit einem Kammerorchester gepriesen werden kann – Joseph Haydn und seine „Schöpfung“ (5/6)

30.04.2020: Wunderkinder, wahre Größe und die Freiheit des Alters: Drei Annähnungen an den großen Protagonisten der Wiener Klassik
02.05.2020: England, das Libretto und Baron van Swieten – Die „Schöpfung“ entsteht.
03.05.2020: Wenn Beethoven auf die Knie fällt – Der berühmteste C-Dur-Akkord der Musikgeschichte und der Siegeszug des Oratoriums
04.05.2020: Drei Erzengel und die Aufklärung – Zum Menschen- und Weltbild von Haydns Schöpfung
05.05.2020: Ein großes Oratorium – Warum der Schöpfergott nicht mit einem Kammerorchester gelobt werden kann.
06.05.2020: Löwengebrüll, Mückenschwirren und Pastoral-Oboen – Haydns kompositorische Raffinesse.

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Zum ersten Mal wird die biblische Schöpfungsgeschichte zum Thema einer großer Komposition. Als religiöses Werk will die Schöpfung aber nicht verstanden werden. Sie gehört in einen Konzertsaal, nicht in eine Kirche.

Michelangelo Buonarroti, Der Schöpfer – Fresko, Sixitinische Kapelle, Vatican

Ein Oratorium verzichtet auf Kostüme, Dramaturgie und Spannung. Auch eine Identifikation mit handelnden Personen ist unmöglich. In Haydns Werk treten Menschen zudem erst gegen Schluss des Werkes auf und sind Lichtjahre von einer realen menschlichen Existenz entfernt. So gesehen scheint ein Oratorium ungeeignet, um Menschen zu unterhalten. Aber doch ist die Schöpfung das erfolgreichste Werk des fleißigen Komponisten geworden. Woran liegt das?

Zum ersten Mal wird das biblische Gedicht von der Erschaffung der Welt zum Gegenstand einer großen Komposition gemacht. Dennoch ist das Werk nicht – wie Bachs große Passionen – für die Aufführung in einer Kirche komponiert worden. Es verlässt die kirchenmusikalische Tradition der Messen und liturgischen Stücke seiner Zeit. Die rezitierten Bibeltexte stammen nicht aus einer deutschsprachigen Bibelausgabe. Die Schöpfung will nämlich keine Kirchenmusik sein, wohl aber Erbauung ermöglichen. Haydn hat für Wien also Ähnliches wie einst Händel für das Londoner Publikum geschaffen: Ein religiöses Werk in einem profanen Rahmen. In seiner Nachfolge komponierte Mendelssohn später seinen Paulus und Brahms sein Deutsches Requiem.

Die Partitur sieht drei Vokalsolisten vor. Sie singen in der Rolle des Gabriel (Sopran), des Uriel (Tenor) und des Raphael (Bass). Während die Rezitative den biblischen Text vortragen und damit das Gerüst bilden, deuten die drei Erzengel die Menschenfreundlichkeit Gottes, die sich in seiner Schöpfung zeigt. Im dritten Teil, der keine Bibeltexte enthält, singt die Sopranistin die Rolle der Eva, der Bass die des Adam. Der Chor schließlich nimmt die Zuhörer hinein in das Geschehen. Zusammen mit allen Schöpfungswerken, insbesondere aber zusammen mit dem Menschenpaar, lobt und preist er den Schöpfer.

Lucas Cranach d. Ä., Adam und Eva im Paradies (Ausschnitt)

Das Orchester aus drei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Fagotten, einem Kontrafagott, zwei Hörnern, zwei Trompeten, drei Posaunen sowie Streichern und Basso Continuo ist für die Zeit der Wiener Klassik gigantisch. Mit der Schöpfung wollte Haydn ein stilbildendes Werk erschaffen, das auch in seinen Dimensionen dem Sujet gerecht werden sollte. Der Schöpfungsakt Gottes kann nicht mit einem Kammerorchester gepriesen werden.

Elsa Benoit, Sopran; Sebastian Kohlhepp, Tenor; Daniel Schmutzhard, Bariton
The Netherlands Radio Philharmonic Orchestra, The Netherlands Radio Choir
Ltg.: Leonardo García Alarcón

30.04.2020: Wunderkinder, wahre Größe und die Freiheit des Alters: Drei Annähnungen an den großen Protagonisten der Wiener Klassik
02.05.2020: England, das Libretto und Baron van Swieten – Die „Schöpfung“ entsteht.
03.05.2020: Wenn Beethoven auf die Knie fällt – Der berühmteste C-Dur-Akkord der Musikgeschichte und der Siegeszug des Oratoriums
04.05.2020: Drei Erzengel und die Aufklärung – Zum Menschen- und Weltbild von Haydns Schöpfung
05.05.2020: Ein großes Oratorium – Warum der Schöpfergott nicht mit einem Kammerorchester gelobt werden kann.
06.05.2020: Löwengebrüll, Mückenschwirren und Pastoral-Oboen – Haydns kompositorische Raffinesse.

Literatur und Links
Klaus Christa, „Denn das Leben ist eine zu köstliche Sache“, Verlag Bucher, 2013
Libretto: www.stanfort.edu
Walter Eigenmann: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“: glarean-magazin.ch
Ilona Haberkamp, Kirstin Pönnighaus, Maria Schors: Joseph Haydn, Die Schöpfung: uni-muenster.de
Gisela Auchter, Hans-Joachim Knopf: Joseph Haydn, Die Schöpfung: sinfonischer-chor-konstanz.de
Wolfgang Gersthofer: Joseph Haydn, Die Schöpfung: carusmedia.com
Gundolf Barenthin, Joseph Haydn, Die Schöpfung: karl-forster-chor.de.
Nikolaus Scholz: „Meine Sprache versteht die ganze Welt“: www.deutschlandfunk.de
James M. Keller: Haydn, Creation, Notes on the Program, New York Philharmonic: nyphil.org
Wikipedia, Die Schöpfung: wikipedia.org
Jochen Kaiser: Die Schöpfung von Joseph Haydn: vkjk.de
WDR Meisterstücke (18.11.2018): WDR Mediathek
WDR Zeitzeichen (29.04.2013): WDR Mediathek