Auch ein Wunderkind braucht fürsorgliche Eltern. Drei biographische Notizen zum Geburtstagskind des Tages

Horst Heller

Joseph Haydn wuchs in einfachen Verhältnissen in Niederösterreich unweit der ungarischen Grenze auf. Er hatte 11 Geschwister. Mit acht Jahren wurde seine schöne Stimme von Georg von Reutter, dem musikalischen Rektor des Stephansdoms entdeckt. Der nahm ihn mit nach Wien. Dort erhielt Joseph Instrumental- und Gesangsunterricht.

Um seine glockenklare Stimme zu erhalten, gab es Überlegungen, ihn „sopranisieren“ zu lassen, was zu dieser Zeit schon recht ungewöhnlich war. Als der Vater brieflich um sein Einverständnis gebeten wurde, geriet er in Panik. Sofort machte er sich auf den Weg, um zu verhindern, dass seinem Sohn Leid zugefügt wurde. Der Haydn-Biograf Albert Christoph Dies erzählt eine Anekdote, die vom Komponisten selbst stammen soll: Der Vater … in der Meinung, dass die Operation gar schon könnte vorgenommen sein, tritt er in das Zimmer, wo sich sein Sohn befand, mit der Frage: „Sepperl, tut dir was weh? Kannst du noch gehen?“

Nie hätte der warmherzige Vater das zugelassen. Hätte er nicht sein Veto gesprochen und seinen Sohn geschützt, hätten sich die Zeitgenossen vielleicht an der unnatürlichen Stimme eines unglücklichen Kastraten erfreuen können. Der Welt wäre aber um einen ihrer größten Komponisten ärmer.

Bernardo Bellotto, Wien vom Belvedere aus gesehen (zwischen 1758 und 1761)

Wahre Größe kann wahre Größe gelten lassen.
Im Jahr 1785 galt Haydn als einer der ganz Großen seiner Zunft und war der Liebling der Wiener Kulturszene. Zur gleichen Zeit war der 29-jährige Wolfgang Amadeus Mozart bereits ein begehrter Virtuose und angesehener Komponist. Konkurrenzdenken war beiden fremd. Mozart war ein aufrichtiger Bewunderer des 24 Jahre älteren Haydn. Trotz des Altersunterschiedes verband sie eine herzliche Freundschaft. Aus Verehrung widmete Mozart seinem väterlichen Freund sechs seiner besten Streichquartette, die sogenannten Haydn-Quartette. In einer in der Musikgeschichte einmaligen Widmung schrieb er:

An meinen lieben Freund Haydn. Hier also, berühmter Mann und gleichzeitig allerbester Freund, sind meine sechs Kinder…. Du selbst, liebster Freund, hast mir bei Deinem letzten Aufenthalt in dieser Stadt Deine Zufriedenheit mit ihnen gezeigt. Nimm sie also wohlwollend auf, das bitte ich, und sei ihnen Vater, Führer und Freund! Von diesem Augenblick an übertrage ich Dir alle meine Rechte: Ich flehe Dich aber an, betrachte mit Nachsicht jene Fehler, die dem getrübten Auge des Vaters vielleicht verborgen geblieben sind, und schenke demjenigen trotz allem Deine großzügige Freundschaft, der sie so schätzt, indem ich von ganzem Herzen bin Dein aufrichtigster Freund W. A. Mozart.

Soweit die Worte des Jüngeren. Und wie reagierte der bescheidene und grundanständige Ältere auf diese Verbeugung in Worten? Mozarts Vater Leopold berichtet von einem Besuch in seinem Haus:
Am Samstag war abends Joseph Haydn und die zwei Barone Tinti bei uns. Es wurden die neuen Quartette gemacht. Haydn sagte mir: „Ich sage Ihnen vor Gott als ein ehrlicher Mann, Ihr Sohn ist der größte Komponist, den ich von Person und Namen nach kenne: Er hat Geschmack und überdies die größte Kompositionswissenschaft.

Ein Meisterwerk entfaltet sich in der Freiheit der Form.
Die „Schöpfung“, die am 30.04.1798 zunächst einem illustren Kreis geladener Gäste vorgestellt und erst ein Jahr später öffentlich aufgeführt wurde, fand begeisterte Anerkennung, rief aber auch einige Kritiker auf den Plan. Neben Friedrich Schiller, über dessen Einwände gegen das Libretto noch zu reden sein wird, konnten junge Kompositionsschüler es nicht akzeptieren, dass der Maestro mit den traditionellen Formen der Komposition relativ frei umgegangen war. Sie bemängelten insbesondere, dass sich in dem umfangreichen Werk zwar viele fugenartige Chöre, aber keine eigentliche Fuge findet. Den namentlich nicht bekannten Kritikern entgegnete Carl-Friedrich Zelter, Dirigent, Goethe-Freund und Kompositionslehrer des jungen Mendelssohn:

Wenn also junge arbeitslustige Harmonisten an allen fugierten Chören dieses Oratoriums eine gewisse Leichtigkeit … oder übermütige Freiheit nicht verkennen mögen, wenn sie bemerken müssen, dass in diesem großen Werke keine einzige strikte Fuge vorhanden ist, so mögen sie sich des ungeachtet gesagt sein lassen, dass, so leicht und so voll und so fließend zu arbeiten nur dem möglich ist, der eine strikte Fuge mit allen ihren Attributen aufzustellen weiß.

Nur wer in der Jugend sein Handwerkszeug gut gelernt hat, der weiß es im Alter in Freiheit anzuwenden. Hat er nicht recht?

30.04.2020: Wunderkinder, wahre Größe und die Freiheit des Alters: Drei Annähnungen an den großen Protagonisten der Wiener Klassik
02.05.2020: England, das Libretto und Baron van Swieten – Die „Schöpfung“ entsteht.
03.05.2020: Wenn Beethoven auf die Knie fällt – Der berühmteste C-Dur-Akkord der Musikgeschichte und der Siegeszug des Oratoriums
04.05.2020: Drei Erzengel und die Aufklärung – Zum Menschen- und Weltbild von Haydns Schöpfung
05.05.2020: Ein großes Oratorium – Warum der Schöpfergott nicht mit einem Kammerorchester gelobt werden kann.
06.05.2020: Löwengebrüll, Mückenschwirren und Pastoral-Oboen – Haydns kompositorische Raffinesse.

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Literatur und Links
Klaus Christa, „Denn das Leben ist eine zu köstliche Sache“, Verlag Bucher, 2013
Libretto: www.stanfort.edu
Walter Eigenmann: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“: glarean-magazin.ch
Ilona Haberkamp, Kirstin Pönnighaus, Maria Schors: Joseph Haydn, Die Schöpfung: uni-muenster.de
Gisela Auchter, Hans-Joachim Knopf: Joseph Haydn, Die Schöpfung: sinfonischer-chor-konstanz.de
Wolfgang Gersthofer: Joseph Haydn, Die Schöpfung: carusmedia.com
Gundolf Barenthin, Joseph Haydn, Die Schöpfung: karl-forster-chor.de.
Nikolaus Scholz: „Meine Sprache versteht die ganze Welt“: www.deutschlandfunk.de
James M. Keller: Haydn, Creation, Notes on the Program, New York Philharmonic: nyphil.org
Wikipedia, Die Schöpfung: wikipedia.org
Jochen Kaiser: Die Schöpfung von Joseph Haydn: vkjk.de
WDR Meisterstücke (18.11.2018): WDR Mediathek
WDR Zeitzeichen (29.04.2013): WDR Mediathek

Blogbeiträge von Horst Heller
20.11.2019: Darf der Erlöser auf der Opernbühne stehen? Warum Händels Messias in London zunächst die Gunst des Publikums nicht erhielt.
22.03.2020: „Gebt mir die Rechnung einer Wäscherei. Ich werde sie vertonen.“ Gedanken zum letzten großen Werk eines Komponisten, der auf Gottes Humor hoffte. Gioachino Rossini
29.08.2021: Atemmos in Birmingham. Bei seiner Uraufführung fand Mendelssohns Elias überwältigende Zustimmung. Doch welchen Preis musste der Komponist dafür bezahlen?
02.10.2020: Freude schöner Götterfunken. Bis 1990 verlief die innerdeutsche Grenzen genau in Takt 697 bei „diesem Kuss der ganzen Welt.“
17.10.2021: Das Meisterwerk zwischen Paulus und Christus. Nach seinem Elias versuchten intolerante Widersacher, den Ruf Mendelssohns posthum zu ruinieren.
16.05.2021: Wunderkind und Witwenzeit. Wenn der Weg zum Ruhm über Stationen voller Sorgen und Enttäuschungen führt. Gedanken am Grab von Clara Schumann
25.07.2021: Robert Schumanns „Holder, holder Frühling.“ Im Jahr 1849 gehörte Mut dazu, ein Frühlingslied zu vertonen.
30.01.2022: „Wenn nicht dein Interdict mich störte.“ Warum die Komponistin Fanny Hensel lange zögerte, ihre Musik öffentlich zu präsentieren und wie sie schließlich ihre Selbstzweifel überwand
13.02.2022: „Sei mir ein David!“ Wie der 12-jährige Mendelssohn dem 72-jährigen Goethe zum ersten Mal begegnete und warum der alte Dichter den jungen Felix, der auf seinem Flügel fröhlich improvisierte, so sehr ins Herz schloss.
27.03.2022: „Licht!“ Der berühmteste C-Dur-Akkord der Musikgeschichte erklang am 30. April 1798 in Wien. Hier ist seine Vorgeschichte.