So stelle ich mir die Herberge vor, von der Lukas erzählt.

Der Evangelist Lukas erzählt in seinem Evangelium von einer Herberge, von einer Krippe und dem „jüdischen Lande“. Als ich Anfang des Jahres 2019 Nabi Musa besuchte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: In einer solchen Stätte könnte die Weihnachtsgeschichte des Lukas spielen.

Nabi Musa (deutsch: Prophet Mose) ist eine Wallfahrtsstätte mit einer historischen Pilgerherberge in den besetzten Gebieten Pälästinas, unweit vom Toten Meer. Sie liegt im Jordantal nahe der Stadt Jericho. Die Geschichte von Nabi Musa lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Auf dem historischen Pilgerweg von Jerusalem nach Mekka erreichte man die Herberge am Ende der ersten Tagesetappe. Hier verbrachten Pilger die Nacht, um am nächsten Morgen weiterzureisen. Im Jahr 1820 wurde das offenbar weitgehend verfallene Gebäudeensemble von den osmanischen Machthabern instand gesetzt.

Was ist heute in Nabi Musa zu sehen? Das Grundstück ist vollständig von einer Mauer umschlossen. Der Besucher betritt es durch ein Tor und sieht dann linker Hand ein Gebäude, in dem sich ein Mausoleum mit einem prächtigen Sarg und eine kleine Moschee befinden. Im Obergeschoss könnten sich die Gästezimmer befunden haben. Auf zwei Seiten des Innenhofes sind kleine Nischen aneinandergereiht, deren Eingänge mit Rundbögen verziert sind. Sie dienten als Stallungen für die Reit-, Last- oder Zugtiere. Hier konnten sie versorgt werden. Dazu dienten Futterkrippen aus Stein oder gestampftem Lehm. Wenn nachts das Tor der Herberge geschlossen wurde, waren die Reisenden und ihre Tiere vor Überfällen und Räubern geschützt.

Ich stelle mir die Herberge, von der Lukas in seinem Evangelium erzählt, zwar deutlich kleiner, aber ansonsten so wie Nabi Musa vor. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Herberge mitten in Bethlehem, am Rande der Ortschaft oder – wie Nabi Musa – mehrere Kilometer von ihr entfernt lag. Und diese Story entsteht in meinem Kopf:

Josef und die hochschwangere Maria betreten am Abend die überfüllte Herberge durch das Tor und wünschen im Obergeschoss des Haupthauses ein Zimmer zu beziehen. Doch die Gästezimmer sind alle vergeben. Das junge Paar muss mit einer der wenig komfortablem ebenerdigen kleinen Stallungen im Innenhof Vorlieb nehmen. Maria und Josef schlafen auf dem Boden und decken sich notdürtig mit dem zu, was sie bei sich haben. In der Nacht kommt das Kind zur Welt. Andere Frauen, die ebenfalls in der Herberge übernachtet haben, helfen der jungen Mutter bei der Geburt, Josef hingegen muss sich zurückziehen. Als sich Maria ein wenig erholt hat, wickelt sie das Kind in Windeln und legt es in die steinernde Krippe, die ansonsten zur Verpflegung der Tiere dient. In der zweiten Nachthälfte kommen Hirten zu Besuch, die auf den wenig ergiebigen Böden die genügsamen Schafe ihrer Arbeitgeber gehütet haben. Sie haben eine Erscheinung gehabt, der sie nun auf den Grund gehen wollen. Sie lassen sich zunächst das Tor der Herberge öffnen, denn das ist nachts verschlossen. Als sie dann den Innenhof der Herberge betreten, müssen sie nur noch die richtige Nische finden, in der das junge Paar mit dem neugeborenen Kind übernachtet hat.

Dass auch Tiere zugegen waren, als Jesus geboren wurde, erzählt Lukas übrigens nicht. Dieses schöne Bild stammt aus einem Wort des Propheten Jesaja. Nachdem ich Nabi Musa gesehen habe, kann ich es mir aber gut vorstellen, dass auch ein Ochse und ein Esel in der Herberge übernachteten.

Die Geschichte von Nabi Musa ist aber auch ohne weihnachtliche Assoziationen interessant. Der Sarkophag in dem zentralen Gebäude enthält der Legende nach die sterblichen Überreste von Hasan er-Rai, dem Hirten des Propheten Mose. Mose selbst erreichte nach biblischer Überlieferung das gelobte Land nicht, sondern starb, bevor die Israeliten den Jordan überquerten. Er wurde auf dem Berg Nebo östlich des Jordan bestattet (5 Mose 34, 5f.). Von Nabi Musa konnten die Pilger auf dem Weg nach Mekka gut über den Jordan auf die Berge östlich des Jordan blicken und dort das Grab des großen Propheten erahnen, der auch von Muslimen verehrt wird. Mit der Zeit wandelte sich die Vorstellung, wer in dem Sarkophag in der Moschee in Nabi Musa bestattet war. Der Ort, von dem aus der Berg Nebo zu sehen war, wurde bald selbst als Todesstätte des Propheten Mose verehrt.

Nachdem Nabi Musa jahrhundertelang „nur“ eine Herberge an einem spirituellen Ort gewesen war, wurde es im 19. Jahrhundert selbst zum Ort eines palästinensischen Wallfahrtsfestes. In der Osterwoche, wenn christliche Pilger nach Jerusalem kamen, verließen Muslime die Stadt und reisten hinab ins Jordantal. Hier feierten sie ein religiöses Fest, das sieben Tage dauerte und nach dessen Ende sie nach Jerusalem zurückkehrten. Als palästinensisches Fest hatte es sowohl sprituelle als auch politische Akzente. Die muslimische Wallfahrt erlebte eine wechselvolle Geschichte, in der Behinderungen durch die Behörden der jeweilien Machthaber, Wiederzulassung und Verbote einander abwechselten.

Quellen
https://www.feinschwarz.net/das-nabi-musa-fest-wieder-entdeckung-einer-muslimischen-wallfahrtstradition
http://vprofile.arij.org/jericho/pdfs/vprofile/An_Nabi_Musa_FINAL.pdf
https://en.wikipedia.org/wiki/Nabi_Musa

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